Die Informationsbombe - Paul Virilio und Friedrich Kittler im Gespräch
 
 Ausgestrahlt im Deutsch-Französischen Kulturkanal ARTE November 1995
 

In den fünfziger Jahren hat Albert Einstein gesagt, dass wir es mit drei Bomben zu tun hätten. Die erste, die Atombombe, sei bereits gezündet. Die zweite sei die Informatikbombe; die dritte, die Bevölkerungsbombe, werde im 21. Jahrhundert explodieren. Gegenwärtig explodiert die Informatikbombe. Neue Technologien, insbesondere die Möglichenkeiten zur Schaffung virtüller Welten, verändern Kultur, Politik und Gesellschaft grundlegend.
Zu diesem Thema diskutierten im November 1995 der Stadtplaner und Philosoph Paul Virilio und Friedrich Kittler, Medienspezialist an der Humboldt Universität in Berlin.

 
Paul Virilio: Wir erleben heute nicht nur einen riesigen Werberummel um Datenautobahnen, Internet und das, was man Cyberspace nennt, sondern durch das Teleshopping und Teleworking nicht im Büro sein, sondern Zuhause am Computer, eine Art von Virtualisierung der Alltagswelt. Im Fernsehen gibt es virtülle Geschäfte, auf dem Computerbildschirm virtuelle Informationsshops. Nun, ich spreche von Geschäften, aber man könnte sich ebenso die Frage stellen, entsteht nicht bereits eine Art von virtüller Stadt, eine Stadt der Städte? Ein wirkliches Zentrum der Welt, das Hyperzentrum der Welt, nicht mehr die Hauptstadt eines Landes, sondern die Kapitale aller Kapitalen der Welt, New York, Singapur, London, die grossen Börsenplätze, die grossen Städte, alle zusammen. Verbirgt sich nicht hinter dieser zunehmenden Virtualisierung ein Verlust der zwischenmenschen Beziehungen, ein Verlust der unmittelbaren Information? Das heisst, des Gedankenaustausches, so wie wir ihn gerade hier vollziehen? Ich glaube, darüber sollten wir nachdenken, nicht nur die Urbanisten, die Wohnungs- und Städtebaür, sondern auch die, die am Ort des Geschehens verantwortlich sind. Ich nenne ein Beispiel: was ist denn ein Supermarkt, ein Einkaufszentrum heute? Nichts anderes als ein Stadtzentrum ohne Stadt, ein Anfangsstadium der Virtualisierung, noch nicht Teleshopping, aber bereits auf der grünen Wiese oder am Stadtrand ein Stadtzentrum ohne Stadt. Das ist Virtualisierung im Frühstadium, das zweite Stadium ist dann tatsächlich Teleshopping zuhause. Gehen Sie nicht mehr aus dem Haus, arbeiten Sie daheim, kaufen Sie daheim, vergnügen Sie sich daheim usw. usf. Was halten Sie von dieser Entwicklung? Mich selbst beunruhigt sie, mich als Urbanisten.

Friedrich Kittler: Es sieht alles aus wie der Erfolg einer wunderbaren und sehr versteckten Strategie, die nun endlich aufgeht, nachdem sie 15 Jahre lang vorbereitet worden ist. 1982 sind die ersten personal computers, wie sie so schön heissen, verteilt worden. Einsame, lonely cowboys die einfach auf dem Schreibtisch standen und nichts anderes konnten als Texte schreiben, ich untertreibe jetzt. Und irgendwann sind die Dingen in den letzten 15 Jahren immer besser geworden und jetzt können sie alle anderen Medien fressen, das Telephon, den Telegraph und das Faxgerät und bald auch das Bild und den Ton und die CD. Und man kann sie alle mit wunderschönen Netzen verdrahten, weltweit. Aus dieser ganz kleinen Investition, die auf jeden dritten Schreibtisch in den zivilisierten Ländern steht, entwickelt sich holterdiepolter ein weltweites Netz, das wirklich wie eine grosse Spinne ist und die anderen Medien das Fürchten lehrt.
Die einzige Ausnahme, die ich machen würde: noch sind was die Virtualisierung angeht die beiden Bildschirme, in meiner Wohung zumindest, getrennt. Im Wohnzimmer steht der Fernsehapparat und im Arbeitszimmer steht der zweite Monitor der am Computer hängt. Und ich glaube, erst an dem Tag, an dem der Fernseher endlich weg ist, was ich auch sehr hoffe, und alles über den Computer läuft, kann man von dieser wirklichen Virtualisierung reden. Im Moment sind wir noch im Zwischenstadium, auf der einen Seite gibt es das Programmedium Fernsehen, das uns besendet, und auf der andere Seite gibt es das Programmiermedium, das alle möglichen Ghettoisierungen möglich macht, und die beiden sind noch in einer sehr gespannten Beziehung züinander. Was die Menschen zwischen Wohn- und Arbeitszimmer und den beiden Bildschirmen angeht, weiss ich nicht. Ich kann nur sagen, der Computer ist nicht erfunden worden um den Menschen zu helfen.

Paul Virilio: Da heisst es, es wird virtuelle Gesellschaften geben, ja sogar eine virtuelle Demokratie. Was ist denn das? Woher stammt diese Idee? Woher kommt der Erfolg einer solchen Idee, die Gemeinschaft ihre Realität zu berauben, zugunsten einer allumfassenden Virtualisierung, einschliesslich der Politik. Wenn man uns erzählt, 'die Demokratie wird virtuell', dann heisst das doch, Wahlen werden durch Meinungsumfragen ersetzt. Wenn man uns sagt, 'die Gesellschaft wird virtuell', dann heisst das doch, keiner muss sich mehr um seinen Nächsten kümmern, weil dessen Anwesenheit in gewisser Weise ja überflüssig wird. Ich frage mich nun, was ist eine virtuelle Gesellschaft? Sie entsteht, aber was ist das Ihrer Meinung nach?

Friedrich Kittler: Entweder sie ist ein dummes Schlagwort, was überhaupt nichts besagt, oder sie ist insofern virtuell, als sie als Gesellschaftsmitglieder oder Staatsmitglieder eben nicht bloss mehr Menschen, natürlichen Personen und Rechtspersonen führt, wie Institutionen, sondern grosse Netzserver und Programmstrukturen, also eine Welt, in der die Menschen nicht mehr allein kulturelle Wesen sind. Und daran wird man sich die nächsten drei Jahrhunderte gewöhnen müssen, dass es Roboter gibt, dass es Programme gibt, die teilweise besser sind. Wir alle wissen, dass die Tage des Schachweltmeisters gezählt sind, dass irgendwann ein Schachprogramm der Schachweltmeister sein wird. Dieses Programm muss man als Teil der virtuellen Welt anerkennen und die virtuelle Gesellschaft ohne diese virtuelle Welt gibt es nicht.

Paul Virilio: Stehen wir nicht schon am Beginn einer dritten Revolution, nach der des Verkehrs und der der Datenübertragung, die wir gerade erleben, nämlich der der Transplantation. Ich meine damit die des transplantierten Menschens, der voll ausgestattet ist, nicht nur mit einem Mobiltelephon und einen notebook computer, sondern zusätzlich mit Teletechnologien, wie einem Herzschrittmacher oder zusetzlicher Gehirnspeicherleistung, Leistungsstimulatoren völlig anderer Art. Ist so etwas vorstellbar und in welchem Umfang? Ich glaube, diese Frage wird nicht gestellt.

Friedrich Kittler: Die Frage wird schon gestellt, aber aus einer etwas anderen Ecke, glaube ich. Die computer community, wie das so schön heisst auf Englisch, als solche hat kein grosses Interesse, sich direkt an die Herzen oder die Gehirne oder die Ohren oder die Augen von Menschen anzuschliessen, weil das eine anorganische Technologie ist, wohingegen die Gentechnologie, die nach dem Modell der Computertechnologie sich jetzt formt und ausbildet, ein sehr grosses Interesse daran haben dürfte, Schnittstellen zwischen den anorganischen Maschinen von heute und dem alten organischen Fleisch des gefallenen und zündigen Menschen zu bilden. Welche der beiden Tendenzen sich durchsetzt ist eine ganz offene Frage.

Ich würde so wetten, dass die Computertechnologie in ihrem militärischen Ursprung und strategischen Abzweckungen, die sie noch heute hat, eigentlich die Bevölkerung in Ruhe lassen würde, wenn sie sich allein als Siliciumtechnologie weiterentwickelt. Und dass die Neurotechnologien und Gentechnologien ein Interesse daran haben, die Bevölkerungen zu fressen. Es gibt für mich zwei möglichen Zukunftsszenarien, eines das die Menschen ausspuckt, das wäre die Computertechnologie, und das andere, das die Menschen frisst, das wäre die Gentechnologie. Und ersteres ist mir lieber, weil es dann einfach Götter gibt auf der einen Seite, oder Dämonen, und auf der anderen Seite Menschen, die es immer schon gab. Und dass es Götter und Menschen gibt, das ist nun heutzutage vergessen worden.

Paul Virilio: Ich glaube das wir eine Grenze erreicht haben und die Weltzeit in der Tat das Ende der Zeit ist, um nicht zu sagen das Ende aller Zeiten, das Wort 'Apokalypse' will ich nicht benutzen. Wir haben in jeder Hinsicht die Grenzgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen erreicht. Damit haben wir nicht nur die befreiende Geschwindigkeit erreicht, die uns erlaubt, einen Satelliten oder Menschen in eine Umlaufbahn zu schiessen, sondern auch die Maür der Beschleunigung. Das heisst die Weltgeschichte, die sich ja ständig beschleunigt hat, von der Ära der Kavallerie über die Ära der Eisenbahn, des Telephons, die Ära Marconis, bis zur Ära des Radios und des Fernsehens, stösst jetzt an die Maür, an die Grenze der Beschleunigung. Die von Ihnen gestellte Frage ist in der Tat, was geschieht in einer Gesellschaft die an die Grenze der Beschleunigung stössst, während doch alle Gesellschaften der Vergangenheit im Bezug auf den Fortschritt, von der Art und Weise ihrer Beschleunigung bestimmt waren? Beschleunigung nicht nur bezogen auf Speicher- und Rechnerleistungen, sondern auf das Handeln.

Wir wissen doch, dass man heute eigentlich nicht mehr nur von 'Television' sprechen kann, sondern von 'Teleaktion' sprechen muss. Interaktiv bedeutet hier sein, aber gleichzeitig anderswo handeln. Ich meinerseits habe Zweifel, ob diese Frage heute so gestellt wird. Sind wir uns dessen bewusst, dass damit ein globaler, historischer Unfall ausgelöscht worden ist. Jedesmal wenn eine neue Geschwindigkeit entdeckt wurde, entstand auch ein neuer spezifischer, lokaler Unfalltypus. Ich sage immer, man hat die Eisenbahn erfunden und damit auch das Entgleisen. Schiffe, die Titanic, sinken an einen bestimmten Ort, an einen bestimmten Tag. Wir aber schafften mit dieser Einheitszeit, dieser Echtzeit, Weltzeit, den Unfall der Unfälle, um mit Epikur zu sprechen. Das heisst, die historische Zeit selbst erleidet den Unfall durch das Erreichen dieser Grenze der Lichtgeschwindigkeit, könnte man sagen.

Mein Eindruck ist, dass das, was man uns als Fortschritt der Kommunikation präsentiert, in Wirklichkeit nicht nur ein Rückschritt, sondern ein unglaublicher Archaismus ist. Die Welt auf eine einzige Zeit zu reduzieren, auf einen Zustand, in dem sie keine Beschleunigungssysteme mehr entwickeln kann, ist ein Unfall ohnegleichen, ein historischer Unfall wie es ihn nie gegeben hat. Wie es Einstein höchst treffend nannte, 'eine zweite Bombe'. Die erste Bombe war die Atombombe, die zweite ist die Informationsbombe, nämlich die Bombe welche uns die absolute Zeit, die Grenzzeit, um nicht zu sagen die Nullzeit, d.h. die Echtzeit bringt. Ich glaube, das was Sie über die Rechenleistung sagen gilt auch für die Fähigkeit, die Welt zu sehen, die Fähigkeit sie zu gestalten, sie zu lenken, aber auch sie zu bewohnen.

Friedrich Kittler: Wahrscheinlich gehen dann auch die beiden von Einstein bezeichneten Gefahren historisch und systematisch zusammen. Es ist eine der grassierenden Ideologien von heute, zu behaupten, die Kommunikation würde durch die neuesten Hochtechnologien befördert. Wir wollten immer schon miteinander reden und nun kommt es besonders schnell, effizient und global über die Netze. In Wahrheit sind die Atombombe und die Computer beide Produkte des zweiten Weltkrieges. Kein Mensch hat sie bestellt, sondern die militärische und strategische Situation des zweiten Weltkrieges hat sie notwendig gemacht. Also, es waren von vornherein keine Kommunikationsmittel, sondern es waren Mitteln des totalen Krieges und des strategisch geplanten Krieges. Was jetzt als spin-off in die Bevölkerung hineingestreut wird, wobei ich nicht sagen würde, es wurde weltweit gestreut, sondern die Dominanzen des Netzes sind natürlich klar Amerika, Kalifornien und Europa und Japan. Was ich nicht glaube, ist dass es schon die letzte Grenze erreicht hat, die Beschleunigung. Dass die Katastrophe sozusagen in der Unüberbietbarkeit der aktüll herrschenden übertragungs- und Berechnungsgeschwindigkeiten steckt, sondern es ist immer noch strategischer und ökonomischer Gewinn daraus zu ziehen, dass man ein System hat, das schneller ist als das andere System.

Es ist immer noch möglich zu unterscheiden zwischen geheimen Maschinen und öffentlich verkauften Maschinen, die sich durch ihre Geschwindigkeit unterscheiden, durch ihre Leistungsfähigkeit. Und es ist immer noch nicht ausgemacht, wie die Sachen weitergehen, weil die Lichtgeschwindigkeit zwar eine absolute Grenze, im Vakuum wohlgemerkt, ist, aber in den real existierenden Technologien läuft die Elektrizität substantiell langsamer als im Vakuum und es werden furchtbaren Kämpfe noch laufen in Richting Beschleunigung, optischer Schaltkreis anstelle von Silicium, das werden Faktoren von einigen Millionen Beschleunigung sein, sodass ich also Schwierigkeiten habe, die Apokalypse bereits eingetreten zu sehen.

Nur die Zeit der Menschen ist, glaube ich, ein für allemal unterlaufen. Die Frage, die für mich brennend ist, ist wie Kultur und Politik darauf reagieren, auf die langsame Depositierung ihrer eigene Mächte. Sie haben sich so auf die Alltagssprache und deren Langsamkeit, so auf die Nerven und deren Langsamkeit verlassen, und sind jetzt selber nicht mehr führbar ohne Maschinerien, die Entscheidungen vorbereiten und am Ende sogar noch treffen. Also wie man als Philosoph und als Politiker reagiert.

Paul Virilio: Sie haben völlig zurecht vorhin den zweiten Weltkrieg erwähnt, aus dem diese Technologien hervorgegangen sind. In der Tat muss man sagen, dass mit der Innovation Atombombe etwas ganz anderes erfunden wurde, das im übrigen heute eine Krise erlebt, ich meine die nukleare Abschreckung. Muss man nun nicht in Zusammenhang mit dieser zweiten Bombe, der Informationsbombe, Wege der Interaktivität, und ich gebe zu bedenken, dass die Interaktivität in gewisser Weise eine Form von Radioaktivität ist. Das ist nicht nur eine Metapher, sondern ein konkretes Bild. Muss man also nicht bereits für das nächste Jahrhundert mit einer anderen Form der Abschreckung rechnen? Ich meine nicht die militärische Abschreckung, zur Verhinderung des Einsatzes der Atombombe, sondern eine gesellschaftliche Abschreckung zur Verhinderung der Schäden durch den Fortschritt der Interaktivität. Denn eine globale Gesellschaft, die in der Echtzeit lebt, vom unmittelbaren Datenaustausch, ist undenkbar. Oder halten Sie sie für denkbar?

Wenn ich Freunde höre, deren Namen ich hier nicht nennen möchte, die von einem riesigen Weltgehirn sprechen, in dem jeder einzelne Mensch nur noch ein Neuron ist, das auf anderen Neuronen reagiert. Der Mensch also nicht mehr ein irdisches, sondern ein neuronales Wesen ist, muss ich genau daran denken. Sind wir nicht schon dabei, was unsere Arbeitswelt angeht, unseren Wohnungsbau, eine gesellschaftliche Abschreckung zu erfinden und vorzubereiten. Das heisst eine Abschreckung, um die negativen Folgen dieser Augenblicklichkeit des Handelns und der Information für die ärmsten und Schwächsten zu verhindern? Ist Ihrer Meinung nach eine Abschreckung der augenblicklichen und globalen Information vorstellbar?

Es geht für mich dabei um das Risiko einer Tschernobylkatastrophe mit schädlichen Folgen für die Lebensweisen der Menschen, für das Sozialverhalten. Gibt es nicht schon heute Hinweise auf eine solche soziale Desintegration, ein Auseinderfallen der Gesellschaft, von Paaren usw. Ist nicht die strukturbedingte Massenarbeitslosigkeit bereits ein Effekt, ein Niederschlag, fall-out dieser Informationsbombe? Und wir stehen erst am Anfang. Was halten Sie von dieser sozialen Dimension der Information, Delokalisation, Automatisierung der Möglichkeit, augenblicklich von einem Ort auf einen anderen in der Welt einwirken zu können?

Hat dies nicht eine Dimension, die Sie problematisch finden? Ist nicht bereits die Massenarbeitslosigkeit, die ja nicht mehr konjunkturbedingt sondern strukturell ist, bereits eine Folge dieses Unfalls, von dem ich söben sprach, dem Unfall der Zeitlichkeit? Stehen wir damit nicht bereits vor einem Problem?

Friedrich Kittler: Sicher, die Massenarbeitslosigkeit von heute ist bestimmt von der Automatisierung der Produktion bestimmt. Ich habe nur das dumpfe Gefühl, >dass die Soziologien und Politiken selber etwas daran schuld sind, dass da soviel Arbeitslosigkeit auftritt. Die Technologie selber ist die einzige >Technologie, die ich kenne, die wirklich radikal umprogrammierbar ist, also wo ständig neue Sachen gemacht werden könnten, im Unterschied zur Fabrikationsstrasse, die damals Henry Ford in Detroit errichtete, wo ein einziges Automodell zehn Jahre lang drüber gelaufen ist.

Man könnte also mit dieser Basistechnologie, die wirklich zur Innovation erfunden worden ist, alles andere innovieren. Aber es wird ja auch systematisch im Konzept von Gesellschaft und im Konzept von Bildung daran festgehalten, dass den Leuten der Zugang zu dieser Technologie versperrt wird. Es gibt ein grassierenden Computeranalfabetismus, computer illiteracy, die wird hergestellt, die wird auch durch Propaganda, Werbung und falsche Verkaufsstrategien hergestellt und hindert sehr viele Leute draufzusteigen. Für die Hacker von heute habe ich, was Arbeitslosigkeit betrifft, keine Angst.

Das ist aber eine ziemliche Teilantwort auf die Frage.

Was das Tschernobyl der Information angeht, das hat sich ja vielleicht an diesem Börsenkrach schon einmal provisorisch abgezeichnet, was das heisst, wenn alle Börsengeschäfte über weltweite Netze gehandelt werden. Und dagegen werden ja permanent Massnahmen ergriffen, also die gute alte Zeit, in der jeder auf seinem Computer machen durfte, was er wollte, ist längst vorbei. Wir werden alle kontroliert auf unseren Maschinen und je vernetzter die Maschinen werden, desto strenger werden die Kontrollen und die Schutzmechanismen. Und die Bürokratien, die eingebaut sind.

Das Netz wird auch bestenfalls dieses Jahr noch frei sein, im nächsten Jahr gehört es wahrscheinlich dem grossen Geld, und dann funktionieren die Kontrollen. Das wäre die andere Gefahr, dass gerade zur Verhinderung eines informatischen Tschernobyls die Kontrollmechanismen, die informatischen Bürokratien, im Verbund mit sehr viel Kapital derart ausweiten, dass die versprochene Liberalisierung der Information überhaupt nicht stattfindet.

Also im Gegenzug einer möglichen Systemzusammenbruchgefahr eine neü Hierarchie aufgebaut wird, die dann strukturell dieselbe Hierarchie ist wie die zwischen Computerliteraten und Computerilleteraten. Auf der einen Seite die, die Kode noch verstehen, so wie die Kryptographen und Kryptologen des zweiten Weltkrieges, und auf der anderen Seite die Massen von Milliarden von Menschen, die ausgeschlossen werden aus Sicherheitsgründen.

Paul Virilio: Immer wenn Technologien schneller gemacht wurden gab es Akkumulation und Konzentration. Heute erleben wir, ob mit Time-Warner oder Turner, einen Gigantismus der Konglomerate, der Monopole, im übrigen noch begünstigt durch den Wegfall der Anti-Monopolgesetze, der diese zentrale Steürung überhaupt möglich macht. Zur gleichen Zeit da man uns erzählt, Internet bringt uns die Freiheit an Ort und Stelle, erleben wir wie sich ganz zufällig Trusts bilden, die Weltkonzerne, keinen blossen multinationalen Unternehmen mehr sind.

Ich frage mich nun, ob durch diese Illusion der Freiheit durch Information nicht eine Einheitlichkeit der Welt larviert wird die zulasten ihrer Vielfalt, ihres gedanklichen Erbes, ihrer Kultur ganz einfach geht. Wir wissen wie das Medium, ganz gleich im welchen Fall, die Verlagerung vom Geschriebenen zum Bildschirm verarmt. Wir wissen um die Verarmung durch den Computer.

Ob wir es wollen oder nicht, der Computer synthetisiert Information. Jeder der einen Synthesizer in der Musik verwendet, zum Beispiel für Geigenmusik, weiss genau, dass eine echte Geige anders klingt als ein Synthesizer. Und der Computer ist nichts anderes als ein Informationssynthesizer. Der Informationsgehalt wird semantisch reduziert, die Kognitivisten wissen dies im übrigen genau, und auch dies ist ein Umstand, den man berücksichtigen müsste. Die Synthetisierung der Information, die Verarmung der Inhalte, wird aber nicht beachtet.

Wie immer wird alles Negative verschwiegen, interessanterweise immer larviert. Wie kann man vorgeben, Technologien zu entwickeln, ohne sich auch gleichzeitig Wissen über damit verbundenen spezifische Unfallrisiken zu erwerben? Und das gilt fürs Fernsehen, genauso wie für Multimedia.

Friedrich Kittler: Man muss es wahrscheinlich so machen wie Bill Gates und die Sachen so verkaufen als seien sie nicht die Sachen wie sie sind. Man verkauft Computer und sagt, das sind Schreibtische, desktops, oder man sagt, es sind Fernsehgeräte, oder die Fernsehgeräte der Zukunft. Auf diese Weise kann man die Maschinerien, mit ihren systemspezifischen Schwächen vernebeln und gut verkaufen.

Das ist eine sehr amerikanische Werbestrategie, und es lässt daraus schliessen, dass die Trust- und Konzentrationsbewegung die ergriffene und vielleicht auch letzte historische Chance der Amerikaner sind, die Pax Americana auf technologischen Weg zu halten. Nachdem der ganzen technologischen Vorsprung schon nach Japan abgewandert schien, hat Amerika es geschafft in den neunziger Jahren, aufgrund seiner elektronischen und computertechnischen Vorsprünge vor allem die Standards zu definieren, unter denen wir heute auf den Netzen und Maschinen kommunizieren.

Und es ist wirklich nicht ausgemacht, dass die Standards, so wie sie sind, die mathematisch oder menschlich besten sind. Das kann man noch unterscheiden, aber es sind beides zwei wichtige Gesichtspunkte, die in diese Standardisierung oder Vereinheitlichung, weltweite Globalisierung nicht eingehen und es ist eigentlich rätselhaft, weshalb kein Mensch und kein Kopf, keine Industrie in Europa irgendeinen Versuch macht, diese Standards, so wie sie sind und wie sie über den grossen Teich kommen, als neue Form der Pax Americana, in Frage zu stellen.

Paul Virilio: Die neuesten Technologien lassen den Raum in seiner Ausdehnung und Dauer verschwinden. Sie reduzieren die Welt auf ein Nichts, wie man sagt. Das ist ein tiefgreifender Verlust, auch wenn man es nicht zugibt, und niemals zugeben wird. Es gibt eine Verschmutzung, nicht nur der materiellen Umwelt, der Fauna und Flora, die Umweltschützer wissen das, sondern auch der Distanzen und der Zeiträume, die mich im Hier und Jetzt leben lassen, an einem Ort und in der Beziehung zu anderen Menschen, die durch Begegnungen entsteht, nicht durch eine Tele-Präsenz, eine Tele-Konferenz oder Tele-shopping. Was denken Sie über diesen Verlust? Setzen wir uns nicht damit selbst und der Welt ein Ende? Wenn es einige akzeptieren können, die Ausdehnung im Raum zu verlieren, wie wir die Zeitdauer, die lange Dauer, verloren haben.

Friedrich Kittler: Ich sehe bis jetzt einen radikalen Verlust an Raum, weil sich das alles ja im Miniaturraum der Schaltkreise abspielt. Und der ganze Witz daran ist, ich habe immer noch Schwierigkeiten zu sehen, dass die Zeit wirklich geschluckt ist. Mein Lieblingsspiel ist eigentlich Computergrafik. Ich nehme ein winziges Stück Welt, ein ganz bescheidenes zentralperspektivisches und schreibe ein Program und lasse das Ding rechnen.

Ich brauche für ein Bild, für das der Photograph seine bekannte 1/30 Sekunde braucht, auf einem sehr guten Rechner ungefähr sechs Minuten, und dann kommt das nächste Bild. Die Simulation, oder die Synthese von Bildern dieser irdischen Welt ist immer noch nicht Echtzeit und die Schwerigkeiten, die die Leute haben, jetzt, bei den computergenerierten Filmen, die brauchen für einen Dinosaurier 20 Stunden Rechenzeit und der Dinosaurier läuft dann in drei Sekunden übers Bild.

Da ist immer noch sehr die Zeit im Spiel und der historische Moment, wo wirklich die Zeit der Welt eingeholt werden würde, ist noch lange vor uns. Deshalb die ganzen Kämpfe.

Mit dem Verlust der Nähe könnte ich leben, langsam. Wieder ein Beispiel aus dem Leben. Es ist langweilig unter dem Betriebssystem DOS mit drei Befehlen sich durchs Leben zu quählen, also, zeige Direktorien an, lösche und bewege Direktorien.

Aber sobald man sich in UNIX begibt, dann ist man von Anfang an ein Mensch unter ungefähr 300 Programmen, von denen man bestenfalls 10 kennt. So im Lauf der ersten Monaten lernt man dann 20 Programme kennen, dann 40, dann 100. Dann ist man sehr überrascht dass man gar nicht mehr alleine ist, sondern mit 100 Programmen lebt, von denen man 20 braucht, und langsam stellt man fest, dass man 2, 3 Programme nie kennengelernt hat, weil die im Hintergrund laufen.

Der Name dieser Programme ist überigens 'Dämonen'. Die haben eine ganz merkwürdige Nähe. Man sieht sie nie, sie tun aber immer etwas für einen, wie die Engel in Angelo Logi des Mittelalters und ich habe fast den Eindruck, als sollte man die alten Soziologenträumen langsam fallenlassen, in denen gesagt wird, die Gesellschaft ist eo ipso natürlicherweise nur aus Menschen zusammengesetzt.

Die Gesellschaft und die Nähen und Fernen von Heute und Morgen und übermorgen werden Menschen und Programme in irgendeiner seltsamen Mixtur einbeziehen. Das gibt, denke ich schon, Möglichkeiten der Nähe, weil die Programme ja manchmal nicht dumm sind, deshalb sind sie ja geschrieben, manchmal intelligenter als der Nachbar um die Ecke.

Paul Virilio: Aber das ist doch ein Verlust. Jeder Neuerwerb geht mit einem Verlust einher. Jeder technische Fortschritt führt auch zu einen Verlust. Wir wissen doch sehr gut, dass heute der Verlust sozialer Bindungen mit diesem Untergang, mit dieser Missachtung des Nächsten verbunden ist. Der Nächste, also jemand der materiell existiert, der schlecht riecht, der langweilt, der stört, den kann man nicht wegzappen usw.

Man hat sogar Deodorants erfunden, damit man ihn nicht riechen muss. Das ist im übrigen ein Grund für die Krise der Städte heute, der bevölkerten Orte. Ob Seefahrer, Menschen der Wellenmechanik oder Menschen der Erde, es gibt einen Ort, an dem bevölkert wird, an dem man lebt.

Heute aber ist es nicht der Nächste sondern der Entfernte, der bevorzugt wird, derjenige der in diesem seltsamen Fenster, auf diesen seltsamen Bildschirmen erscheint. Er wird priviligiert, zulasten dessen der ganz in der Nähe ist.

Das reicht sogar bis in die Ehe hinein. Das sieht man doch an den sogenannten getrennt lebenden Paaren, Männer und Fraün, die in getrennten Wohnungen leben, als seien sie bereits geschieden. Und die Kinder lernen dabei ganz nebenbei, ständig zwischen Vater und Mutter hin und her zu pendeln. Und das ist nur der Anfang, denn der Cybersex beweist uns schon, dass man demnächst auf Distanz miteinander verkehren kann, d.h. wirklich seinen Entfernten lieben wie sich selbst, weil die echte Frau, die man hat, langweilig ist und weil Präservative nicht sehr zuverlässig sind. Da haben wir doch ein Universalpräservativ.

Wir haben eine Technologie erfunden mit der man sich über tausende von Kilometern hinweg lieben kann, ohne sich zu berühren. Ist das nicht eine Metapher des Zerfalls? Ich meine nicht nur der Trennung von Paaren, sondern der Trennung sozialer Bindungen, ja sogar nicht nur der Trennung zwischen zwei Menschen, sondern des Kopulationsaktes selbst. Ist das nicht bereits ein Effekt der Informationsbombe?

Mir scheint, gut ich übertreibe, aber wie sollte man nicht übertreiben angesichts solcher Umstände? Ich habe wirklich den Eindruck, dass das 19. Jahrhundert, die Kernphysik, der Zerfall der Materie, ebenso wie die Kunst, der Pointillismus, der Divisionismus und natürlich auch die Fraktalgeometrie, auch gesellschaftliche Auswirkungen haben. Das heisst, dieser Zerfall betrifft auch die Sozialstruktur, den Einzelnen selbst, bzw. die Zweierbeziehung des Paares, das ja die eigentliche Grundlage der Schöpfung der Menschheitsgeschichte ist, denn die Demographie ist ja ein die Geschichte gestaltendes Element. Das ist doch von gewisser Bedeutung, oder nicht? Denn ich habe nichts gegen Programme, aber ich wünschte mir, sie würden auch von den Männern und Fraün sprechen. Was meinen Sie dazu?

Friedrich Kittler: Die Fraktalgeometrie ist erfunden worden, um die euklidische Geometrie etwas komplizierter zu machen. Plötzlich eine Welt, die nicht mehr bloss mehr aus Rechtecken und Kreisen und graden Linien besteht, sondern eine Welt, die aus Schwengen und Wolken besteht und all den schönen Dingen, denen vermutlich auch das menschliche Fleisch relativ nahe steht, nicht etwa den rechteckigen Gebilden von Le Corbusier oder den etwas komplizierteren von Phidias von Athen.

Im Prinzip sind solche Sachen wie die fraktale Geometrie, die schlichtweg nur durch Computerpower errechenbar wurde und vorher immer nur gedacht werden konnte, aber nie gemacht werden konnte, Dinge die eigentlich der Komplixität der Männer und Fraün mehr entgegenkommen als Euklid. Euklid würde etwa entsprechen den Verfahren, wie im 18. Jahrhundert junge Rekruten gedrillt worden sind. Das hat Foucault, und Sie selbst, sehr schön gezeigt, die gerade Haltung des Rekruten, der selber eine Linie bilden soll in seinem Regiment, in seiner Kampflinie.

Heute entsteht eine neu, Chaosmathematik und das könnte ein Modell sein, das nicht unbedingt alle Paare auseinanderreisst, sondern die Komplexität von Individün besser beschreibt. Und die Theorie der Rückkopplung könnte ja, wenn's gut ginge, auch die Beziehung zwischen Paaren besser beschreiben. Grob gesprochen, die Freudsche Theorie des Verhältnisses von Fraün und Männern scheint mir dümmer zu sein als die Theorie, die Bateson auf der Basis von Rückkopplungsschleifen gemacht hat. Zu zeigen, dass wenn ich zu dir das sage, und du wieder das sagt, und ich daraufhin das sage, weil du mir das gesagt hast und ich das im guten und bösen Sinne hochschaukeln kann, scheint eine viel vernünftigere Beschreibung von Sozialbeziehungen zu sein, als die Beschreibung mit internen Imagines, die einen ewigen, lebenslangen Krieg gegeneinder führen. So eine Rückkopplungsbeschreibung von Beziehungen ist selbstverständiglich basiert auf Nachrichtentechnik und ist nicht aus der Psychologie abzulesen gewesen, als sie auftauchte.

Die Modelle, die heute verfügbar sind, um Komplexität zu beschreiben, sind besser als vorher. Warum die Leute dann trotzdem ins Unglück laufen in ihrer Einsamkeit, vielleicht auch ich selbst, ich sitze oft lieber am Computer, als dass ich andere Sachen mache oder mich unterhalte, das muss irgendwie die Faszination von Macht sein, so wie früher Leute ihre Liebe von ihrer Frau abgewendet haben und auf ein Bild von Jesus oder Maria gelenkt haben, so geht das heute in die Technologien hinein. Ist das die Technologie selbst, die unseren Eros, unsere Libido abzieht, oder sind das die Leute, die sie verkaufen?

Paul Virilio: Ich glaube tatsächlich, dass heute eine neue Kaste von Technologiemönchen heranwächst, und dass es in der Tat heute Klöster gibt, die dabei sind, einer 'Zivilisation' den Weg zu bereiten, die gar nichts zu tun hat mit der Zivilisation unserer Erinnerung.

Die Arbeit wird heute nicht wie im Mittelalter gemacht, sondern durch die Aufarbeitung des Wissens wie zu früheren Zeiten, der Antike. Der Beitrag der Mönchen zur Wiederentdeckung der Antike ist ja bekannt. Es sind Technologiemönche an der Arbeit und nicht etwa Mystiker, die alles daransetzen, eine neue Gesellschaft ohne Bezugspunkte zu schaffen.

Wir haben es zu tun mit einem technischen Fundamentalismus, nicht nur mit einem mystischen Fundamentalismus, im Sinne von Monotheismus, sondern im Sinne eines Informationsmonotheismus. Nicht mehr mit dem Monotheismus der Schrift, des Korans, der Bibel, des neuen Testaments, sondern der Information im weitesten Sinne. Und dieser Monotheismus entsteht unabhängig von allen Kontroversen. Er ist das Ergebnis einer Intelligenz ohne Gedächtnis und Vergangenheit.

Und damit verbunden ist meiner Meinung nach die grosse Gefahr, eine Entgleisung, des Abgleitens ins Utopische, in eine Zukunkft ohne den Menschen. Und das macht mir Sorgen. Ich glaube, aus diesem Fundamentalismus entsteht Gewalt, Hypergewalt.

Zur Zeit redet man ja viel über die Gefahren des islamischen Fundamentalismus, Bomben usw. Das sind Splitterbomben. Ich glaube aber, es wird tatsächlich an Informationsbomben gearbeitet, die die gleiche zerstörerische Wirkung auf den Sozius haben, insofern als der Sozius, oder die Gesellschaft, Gedächtnis ist, d.h. verwurzelt nicht an einem Ort, im Hier und Jetzt, sondern in einer Vergangenheit, die ihre eigene Struktur hat und die die Gegenwart strukturiert. Wir sind nur der Spross des Gewesenen. Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie noch einmal zu erleben, sagt man. Und genau das passiert in gewisser Weise mit diesem Feudalismus der neuen Technologien, mit dieser Form von Informationsimperialismus. Und ich glaube, ich bin überhaupt kein Gegner der Information.

Aber mit dieser totalitären Dimension setzt man sich nicht genug auseinander. Und es wäre doch angebracht, dass sich auch diese Technologiemönche, zu denen ich Sie nicht zähle, mit dieser Sünde beschäftigen. Denn auch im technischen Fundamentalismus gibt es Sünden, deren Folgen, deren schädlichen Auswirkungen wir heute erleben. Auswirkungen des Fortschritts heisst es, aber es bekennt sich keiner dazu. Diese Mönche kennen diese Sünden nicht. Es gibt einfach Arme und Menschen, die verrecken. Wie denken sie über die fundamentalistische Dimension der Information?

Friedrich Kittler: Ich sehe es genauso. Er ist aber wahnsinnig spannend, dieser neü Integralismus. Natürlich vergessen die Leute, die das alles programmieren, die Geschichte Europas, die das möglich gemacht hat. Wenn man diese Geschichte wieder bedenkt, kann man sehr klar sehen, wie das präzise vor allem aus der Gutenbergischen Erfindung des Buchdrucks und der modernen Algebra herausgekommen ist. Beide sind ungefähr gleichzeitig um 1450-1500 entstanden.

Der Buchdruck konnte alles kopieren und abschreiben und die Algebra konnte alles berechnen, aber die beiden liefen nicht zusammen. Wenn man schrieb, musste man immer noch Polizei oder Liebe einsetzen, damit die Leser taten was man beschrieben hat. Wenn man programmiert, dann tritt ein richtiger Integralismus auf. Man schreibt nicht nur, sondern das, was man schreibt, wird getan vom Programm.

Das Versprechen des Buchdrucks und das Versprechen der modernen Mathematik endlich zusammengekommen, nach 500 Jahren Latenzzeit Europas, das ist eine unendliche Macht, wirklich eine Art von Integral, in das alle vorher getrennten einzelnen Technologien, Metallurgien, Halbleitertechniken und Elektrotechnik eingeht. All diese Basteleien, die sich abgespiegelt haben. Es ist sehr schwer anzugeben, ob es da noch eine Grenze gibt, ich glaube, das ist die im Moment dringlichste Frage.

Es gibt im Grunde nur ein paar weitsichtigen Physiker, die sagen, das Prinzip der Digitalisierung selber ist wunderbar, hat aber internen Leistungsgrenzen, die alle Werbung wegleugnet und die bestehen in dem schlichten Satz, dass die Natur selber kein Computer ist und dass deshalb bestimmte komplexe Phänomene des Menschen, der Natur prinzipiell, ausserhalb der Berechenbarkeit des heute herrschenden Paradigmas liegen.

Das ist eigentlich die einzige vernünftige Hoffnung, die ich hegen kann, dass wir nicht am Ende der Weltgeschichte angelangt sind. Denn wenn die Digitalrechner keine internen Grenzen hätten, dann würden sie wirklich die Weltgeschichte zu Ende bringen, in all den Punkten, die Sie gesagt haben: die Zeit ist nicht mehr die Zeit des Menschens, der Raum ist nicht mehr der Raum des Menschen, sondern ist ein Gang in diesen kleinen Wunderdingen. Aber wenn diese Wunderdinge selber Schranken haben, dann kann man sich problemlos ein 22. oder 23. Jahrhundert vorstellen, in dem das Prinzip der Digitalmaschinen nicht gerade über Bord geworfen wird, aber ergänzt wird durch irgendein neues, zu erfindendes Prinzip.

Paul Virilio: Wäre es aber nicht an der Zeit, dass diejenigen, die Maschinen baün und ihre Vorzüge loben, nicht die, die sie verkaufen, meine ich, sich zusammentun um diese Grenze auszutesten, diese Schadwirkung, dieses spezifisch Negative der Information. 1888 trafen sich die Erfinder der Eisenbahn, die Erbaür der Schienennetzen Europas, in Brüssel.

Warum? Weil die Entwicklung der Dampfmaschinen voranging, die Lokomotiven immer leistungsstärker wurden, die Tiefbauingenieure immer phantastischeren Tunnelbauwerke konstruieren und schwingungsfeste Stahlbauwerke bauen konnten usw. usf.

Aber es gab ein Problem. Die Verkehrsführung hielt nicht schritt mit der Leistungsentwicklung der Maschinen. Darum trafen sie sich alle in Brüssel und erfanden das, was man heute die Verkehrsleittechnik nennt. Man entwickelte das sogenannte Blocksystem. Das Wort gefällt mir übrigens.

Wenn der TGV heute gut funktioniert, dann deshalb, weil es das Blocksystem gibt und die Signalerfassung im Führerstand des Zuges. Das bedeutet, es gibt praktisch kaum noch Unfälle. Man ist vom Negativen ausgegangen um das zu regeln, was nicht funktionierte, nämlich den Verkehr. Man hat Gleiskontakte erfunden, Fahrsignale, das bereits war eine Form der Daten- und Signalverarbeitung die hoch entwickelt war.

Warum gibt es also heute angesichtlich der schädlichen Folgen der Arbeitslosigkeit, der Fehlentwicklungen im Städtebau, warum gibt es kein Colloquium über diese Kehrseite des informationstechnischen Fortschritts? Warum beschäftigen wir uns nicht, ähnlich wie die Ingenieure des 19. Jahrhundert das spezifischen Unfallsrisikos der Eisenbahn, nämlich der Entgleisung, annahmen, heute mit dem spezifischen, zugegeben, immateriellen Gefahrenpotential der Datennetze, der Entstehung einer Sozialkybernetik.

Wenn ich mich recht entsinne fürchteten bereits Alan Turing und Norbert Wiener die Anwendung der Sozialkybernetik auf die Gesellschaft. Und uns erzählt man heute, das sei der Fortschritt. Cyberspace, die kybernetische Regelung des Soziallebens sei der Gipfel der Demokratie, vor allem von Ross Perot hört man das.

Mir scheint, es wäre an der Zeit, dass diejenigen, die an den Programmen arbeiten, sich auch mit einem Gegenprogramm beschäftigen, um die Grenzen dieses Prozesses auszuloten. Aber warum verwenden sie ihre Intelligenz nicht darauf, die Technik in Auseinandersetzung mit ihren negativen Seiten weiterzüntwickeln? Warum verschleiern sie immerzu die Erbsünden dieser Technik, während man doch den Schiffbau vorangebracht hat, indem man die Schiffe wasserdicht machte, die Flugzeugtechnik, indem man die Motoren besser steuerbar machte, und natürlich durch die Flugüberwachung und die Fluglotsen. Warum gibt es sowas nicht?

Friedrich Kittler: Ich habe eine einzige Antwort, die aber völlig idiosynkratisch ist. Wie schon bei den Columbia-Unfall, verfallen vor allem amerikanische Firmen in eine Hälfte von Ingenieuren und eine Hälfte von Händlern, Kaufleuten und Juristen, und die Sprecher sind immer die Juristen und eventuell treten noch die Professoren von MIT hinzu.

Und ich kenne keine einzige größere Firma, die in den Händen von Leuten wäre, die die Sachen selber programmieren. Sondern die Leute, die programmieren, die also wissen wo die Negativität der Systeme sitzt, werden grundsätzlich als Programmiersklaven gehalten, das ist ein Ausdruck in der Branche, tut mir leid.

Und die Leute, die Propaganda machen, denen das gehört, wie Bill Gates, haben vielleicht vor 20 Jahren fünf Zeilen geschrieben und das dann gelassen. Dieser Schnitt verhindert eigentlich Diskussionen, diese Negativität, und die Leute, die Sie vorhin zitierten, sind eigentlich freie Wissenschaftler, die sich als Physiker Gedanken machen, die aber nicht in der Industrie tätig sind. Vielleicht wenn Europa so sesshaft ist, könnte wenigsten das seine Aufgabe sein, dass wir hier eine Diskussion mit den Leuten, die die Systeme bauen, planen und entwerfen, veranstalten.

Paul Virilio: Warum nicht in Brüssel? Weil eben doch auch die Blocksystemkonferenz in Brüssel stattfand. Ich glaube, Sie haben eben das entscheidende Wort genannt, 'Unternehmen'. Information kann kein Unternehmen sein, sie ist die eigentliche Materie der Welt. Was wir gerade tun hat nichts mit unternehmen zu tun, das ist ein Dialog, ein Gespräch. Wie kann man aber die Frage der Information auf Unternehmen beschränken?

Mehr noch, auf Unternehmen, die sich auf ein absolutes Monopol hinentwickeln? Wir stehen vor einem Phänomen der Tyrannei, einer Tyrannei der Echtzeit, der Information, die ja ein Alltagsprodukt wie der elektrischen Strom sein sollte. Wenn aber etwas kein Alltagsprodukt ist, dann ist es doch die Information.

Wir stehen vor einem Phänomen der Materie, ihrer Masse und Energie, die ihrem Wesen nach die Geschichte und das Sein konstituiert. Sprache und Sein ist dasselbe. Sein ist sprechen. Das lateinische Wort für Kind, 'Infant', bedeutet doch, 'der nicht spricht'. Man hat also aus der Information ein Fertigprodukt gemacht, ein Weltunternehmen.

Was ist das für ein Drama, das man uns da als Fortschritt zu verkaufen wagt? Ich reg mich darüber auf, weil ich glaube, dass Europa zur Zeit eben überhaupt nicht darauf reagiert. Die Verantwortlichen für den Bereich neue Produkte haben sich doch vor einem Jahr in Brüssel getroffen und man hat ihnen die neuen Systeme, die neuen Produkte schmackhaft gemacht. Und diejenigen, die dort hingegangen sind, um doch ein wenig zur Skepsis zu mahnen, und die gesagt haben, es gibt da vielleicht doch das eine oder andere Problem, die hat man wie den letzten Dreck behandelt. Und das an dem Ort, an dem Europa gestaltet wird oder entstehen soll.

Friedrich Kittler: Das ist die Katastrophe. Das Zusammenschmeissen eines alten, aus der Goethezeit stammenden Copyright und Eigentumsrechts an geistigen Produkten mit der neuen Entdeckungen der digitalen Maschinen. Die Definition war die einer Maschine, die alle anderen Maschinen imitieren kann.

Diese Definition schafft eigentlich jedes Urheberrecht und jedes geistige Eigentum ab, weil es genau diese Maschine ist, die jede andere Maschine, auch uns, in dieser Hinsicht, sofern wir denken, imitieren kann. Das war, glaube ich, das grosse englische Gift, das kurz vor dem zweiten Weltkrieg erfunden ist und dieses Gift ist nach Amerika importiert worden, und das Problem für Amerika war, daraus ein profitables Geschäft zu machen. Und das scheint in den letzten 50, 60 Jahren wunderbar geklappt zu haben.

Die skandalösesten Meldungen, die mich erreichen, beziehen sich darauf, dass es jetzt möglich ist in den USA mathematische Gleichungen zu patentieren. In 2000 Jahren Geschichte ist das schlechthin verboten gewesen, das war die freieste aller Wissenschaften, die nicht patentierbar war. Wenn das geschafft wird und wenn amerikanische Konzerne das europäische Urheberrecht an Software in diesem amerikanischen Sinne modifizieren, dann ist genau das Gegenteil erreicht von dem, was damals die Leute wollten, die die Turingmaschine geschaffen haben.

Das ist eine reale Drohung, weil die Information nicht privat sein kann und nicht in Eigentum sein kann. Ich glaube nur nicht, dass diese Strategie auf die Dauer wird aufgehen können, weil die Maschinen wirklich proliferieren, wie Atombomben und alle anderen, weil es nicht kontrollierbar ist und weil im Prinzip darin die allgemeine Imitierbarkeit steckt, dürfte die Software nicht patentierbar sein, auf die Dauer also nicht schützbar.

Und was die Hardware angeht, also die Maschinerie selbst, es ist ja so, dass die Herstellungskosten ständig fallen, mit dem Resultat, dass in 10 Jahren die heute noch unerschwinglichsten Maschinen für einen Pfennig oder einen Franc zu haben sein werden. Das ist die andere Dimension, die wirklich dafür sorgt, dass, ich sage nicht Demokratie, aber zumindest Nicht- Eigentum vielleicht die Hoffnung sein könnte.

Paul Virilio: Anstatt unser Gespräch von einer pessimistischen Warte zu betrachten, sollten wir es doch eher vom optimistischen Standpunkt sehen. Wir haben versucht, bei aller Begeisterung für diesen Tele-Technologien, uns Gedanken über deren Zukunft zu machen.

Nicht über die Zukunft der Kommerzialisierung dieser Produkte, die Zukunft des Monopols, sondern deren zukünftige Entwicklung. Diese Entwicklung verläuft ja nicht parallel zur Entwicklung des Absatzes der Produkte, sondern zur Entwicklung der Leistungen. Und die Entwicklung der Leistungen, wie Sie ja gesagt haben, kommt durch das Erkennen der schädlichen Folgen der Negativität.

Wir sollten vor den archaischen Instinkten derer warnen, die heute vorgeben, eine globale Informationswelt zu entwickeln, ohne zu analysieren, inwieweit die inhaltliche Reduzierung eine destruktive Wirkung hat. Nicht nur auf Kleinunternehmen, auf tausende und millionen Arbeitslose, sondern auf das, was die Geschichte des Sozialwesens ausmacht, nämlich sein gedankliches Erbe und seine, über Jahrtausende geformte Struktur. Darin liegt ein regulatives Element.

Entweder dieses Gedächtnis ist nicht lediglich das tote Gedächtnis der Massenspeicher eines Computers, sondern das lebendige Gedächtnis der Arbeitsspeicher der Menschen, oder es gibt gar kein Gedächtnis mehr, nur noch Gewalt. Und dann explodiert wirklich die Informationsbombe und es entsteht die Notwendigkeit, und das wäre ein wahres Drama, einer sozialen Abschreckung.

Und im Vergleich dazu wären die vierzig Jahre der nuklearen Abschreckung, glaube ich, so gut wie gar nichts. Etwas sehr viel gefährlicheres als das, was wir vor 40 oder 50 Jahren erlebt haben, etwas das in seinem Totalitarismus sehr viel gefährlicher wäre als z.B. der Nationalsozialismus oder der Stalinismus.


 


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