Paul Virilio: Wir erleben heute nicht nur einen riesigen Werberummel um
Datenautobahnen, Internet und das, was man Cyberspace nennt, sondern durch
das Teleshopping und Teleworking nicht im Büro sein, sondern Zuhause am
Computer, eine Art von Virtualisierung der Alltagswelt. Im Fernsehen gibt
es virtülle Geschäfte, auf dem Computerbildschirm virtuelle
Informationsshops. Nun, ich spreche von Geschäften, aber man könnte sich
ebenso die Frage stellen, entsteht nicht bereits eine Art von virtüller
Stadt, eine Stadt der Städte? Ein wirkliches Zentrum der Welt, das
Hyperzentrum der Welt, nicht mehr die Hauptstadt eines Landes, sondern die
Kapitale aller Kapitalen der Welt, New York, Singapur, London, die grossen
Börsenplätze, die grossen Städte, alle zusammen.
Verbirgt sich nicht hinter dieser zunehmenden Virtualisierung ein Verlust
der zwischenmenschen Beziehungen, ein Verlust der unmittelbaren
Information? Das heisst, des Gedankenaustausches, so wie wir ihn gerade
hier vollziehen? Ich glaube, darüber sollten wir nachdenken, nicht nur die
Urbanisten, die Wohnungs- und Städtebaür, sondern auch die, die am Ort
des Geschehens verantwortlich sind. Ich nenne ein Beispiel: was ist denn
ein Supermarkt, ein Einkaufszentrum heute? Nichts anderes als ein
Stadtzentrum ohne Stadt, ein Anfangsstadium der Virtualisierung, noch nicht
Teleshopping, aber bereits auf der grünen Wiese oder am Stadtrand ein
Stadtzentrum ohne Stadt. Das ist Virtualisierung im Frühstadium, das
zweite Stadium ist dann tatsächlich Teleshopping zuhause. Gehen Sie nicht
mehr aus dem Haus, arbeiten Sie daheim, kaufen Sie daheim, vergnügen Sie
sich daheim usw. usf. Was halten Sie von dieser Entwicklung? Mich selbst
beunruhigt sie, mich als Urbanisten.
Friedrich Kittler: Es sieht alles aus wie der Erfolg einer wunderbaren und sehr
versteckten Strategie, die nun endlich aufgeht, nachdem sie 15 Jahre lang
vorbereitet worden ist. 1982 sind die ersten personal computers, wie sie so
schön heissen, verteilt worden. Einsame, lonely cowboys die einfach auf
dem Schreibtisch standen und nichts anderes konnten als Texte schreiben,
ich untertreibe jetzt. Und irgendwann sind die Dingen in den letzten 15
Jahren immer besser geworden und jetzt können sie alle anderen Medien
fressen, das Telephon, den Telegraph und das Faxgerät und bald auch das
Bild und den Ton und die CD. Und man kann sie alle mit wunderschönen
Netzen verdrahten, weltweit. Aus dieser ganz kleinen Investition, die auf
jeden dritten Schreibtisch in den zivilisierten Ländern steht, entwickelt
sich holterdiepolter ein weltweites Netz, das wirklich wie eine grosse
Spinne ist und die anderen Medien das Fürchten lehrt.
Die einzige Ausnahme, die ich machen würde: noch sind was die
Virtualisierung angeht die beiden Bildschirme, in meiner Wohung zumindest,
getrennt. Im Wohnzimmer steht der Fernsehapparat und im Arbeitszimmer steht
der zweite Monitor der am Computer hängt. Und ich glaube, erst an dem Tag,
an dem der Fernseher endlich weg ist, was ich auch sehr hoffe, und alles
über den Computer läuft, kann man von dieser wirklichen Virtualisierung
reden. Im Moment sind wir noch im Zwischenstadium, auf der einen Seite gibt
es das Programmedium Fernsehen, das uns besendet, und auf der andere Seite
gibt es das Programmiermedium, das alle möglichen Ghettoisierungen
möglich macht, und die beiden sind noch in einer sehr gespannten Beziehung
züinander. Was die Menschen zwischen Wohn- und Arbeitszimmer und den
beiden Bildschirmen angeht, weiss ich nicht. Ich kann nur sagen, der
Computer ist nicht erfunden worden um den Menschen zu helfen.
Paul Virilio: Da heisst es, es wird virtuelle Gesellschaften geben, ja sogar eine
virtuelle Demokratie. Was ist denn das? Woher stammt diese Idee? Woher
kommt der Erfolg einer solchen Idee, die Gemeinschaft ihre Realität zu
berauben, zugunsten einer allumfassenden Virtualisierung, einschliesslich
der Politik. Wenn man uns erzählt, 'die Demokratie wird virtuell', dann
heisst das doch, Wahlen werden durch Meinungsumfragen ersetzt. Wenn man uns
sagt, 'die Gesellschaft wird virtuell', dann heisst das doch, keiner muss
sich mehr um seinen Nächsten kümmern, weil dessen Anwesenheit in gewisser
Weise ja überflüssig wird. Ich frage mich nun, was ist eine virtuelle
Gesellschaft? Sie entsteht, aber was ist das Ihrer Meinung nach?
Friedrich Kittler: Entweder sie ist ein dummes Schlagwort, was überhaupt nichts besagt,
oder sie ist insofern virtuell, als sie als Gesellschaftsmitglieder oder
Staatsmitglieder eben nicht bloss mehr Menschen, natürlichen Personen und
Rechtspersonen führt, wie Institutionen, sondern grosse Netzserver und
Programmstrukturen, also eine Welt, in der die Menschen nicht mehr allein
kulturelle Wesen sind. Und daran wird man sich die nächsten drei
Jahrhunderte gewöhnen müssen, dass es Roboter gibt, dass es Programme
gibt, die teilweise besser sind. Wir alle wissen, dass die Tage des
Schachweltmeisters gezählt sind, dass irgendwann ein Schachprogramm der
Schachweltmeister sein wird. Dieses Programm muss man als Teil der
virtuellen Welt anerkennen und die virtuelle Gesellschaft ohne diese
virtuelle Welt gibt es nicht.
Paul Virilio: Stehen wir nicht schon am Beginn einer dritten Revolution, nach der des
Verkehrs und der der Datenübertragung, die wir gerade erleben, nämlich
der der Transplantation. Ich meine damit die des transplantierten
Menschens, der voll ausgestattet ist, nicht nur mit einem Mobiltelephon und
einen notebook computer, sondern zusätzlich mit Teletechnologien, wie
einem Herzschrittmacher oder zusetzlicher Gehirnspeicherleistung,
Leistungsstimulatoren völlig anderer Art. Ist so etwas vorstellbar und in
welchem Umfang? Ich glaube, diese Frage wird nicht gestellt.
Friedrich Kittler: Die Frage wird schon gestellt, aber aus einer etwas anderen Ecke,
glaube ich. Die computer community, wie das so schön heisst auf Englisch,
als solche hat kein grosses Interesse, sich direkt an die Herzen oder die
Gehirne oder die Ohren oder die Augen von Menschen anzuschliessen, weil das
eine anorganische Technologie ist, wohingegen die Gentechnologie, die nach
dem Modell der Computertechnologie sich jetzt formt und ausbildet, ein sehr
grosses Interesse daran haben dürfte, Schnittstellen zwischen den
anorganischen Maschinen von heute und dem alten organischen Fleisch des
gefallenen und zündigen Menschen zu bilden. Welche der beiden Tendenzen
sich durchsetzt ist eine ganz offene Frage.
Ich würde so wetten, dass die Computertechnologie in ihrem militärischen
Ursprung und strategischen Abzweckungen, die sie noch heute hat, eigentlich
die Bevölkerung in Ruhe lassen würde, wenn sie sich allein als
Siliciumtechnologie weiterentwickelt. Und dass die Neurotechnologien und
Gentechnologien ein Interesse daran haben, die Bevölkerungen zu fressen.
Es gibt für mich zwei möglichen Zukunftsszenarien, eines das die Menschen
ausspuckt, das wäre die Computertechnologie, und das andere, das die
Menschen frisst, das wäre die Gentechnologie. Und ersteres ist mir lieber,
weil es dann einfach Götter gibt auf der einen Seite, oder Dämonen, und
auf der anderen Seite Menschen, die es immer schon gab. Und dass es Götter
und Menschen gibt, das ist nun heutzutage vergessen worden.
Paul Virilio: Ich glaube das wir eine Grenze erreicht haben und die Weltzeit in der
Tat das Ende der Zeit ist, um nicht zu sagen das Ende aller Zeiten, das
Wort 'Apokalypse' will ich nicht benutzen. Wir haben in jeder Hinsicht die
Grenzgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen erreicht. Damit haben
wir nicht nur die befreiende Geschwindigkeit erreicht, die uns erlaubt,
einen Satelliten oder Menschen in eine Umlaufbahn zu schiessen, sondern
auch die Maür der Beschleunigung. Das heisst die Weltgeschichte, die sich
ja ständig beschleunigt hat, von der Ära der Kavallerie über die Ära
der Eisenbahn, des Telephons, die Ära Marconis, bis zur Ära des Radios
und des Fernsehens, stösst jetzt an die Maür, an die Grenze der
Beschleunigung. Die von Ihnen gestellte Frage ist in der Tat, was geschieht
in einer Gesellschaft die an die Grenze der Beschleunigung stössst,
während doch alle Gesellschaften der Vergangenheit im Bezug auf den
Fortschritt, von der Art und Weise ihrer Beschleunigung bestimmt waren?
Beschleunigung nicht nur bezogen auf Speicher- und Rechnerleistungen,
sondern auf das Handeln.
Wir wissen doch, dass man heute eigentlich nicht mehr nur von 'Television'
sprechen kann, sondern von 'Teleaktion' sprechen muss. Interaktiv bedeutet
hier sein, aber gleichzeitig anderswo handeln. Ich meinerseits habe
Zweifel, ob diese Frage heute so gestellt wird. Sind wir uns dessen
bewusst, dass damit ein globaler, historischer Unfall ausgelöscht worden
ist. Jedesmal wenn eine neue Geschwindigkeit entdeckt wurde, entstand auch
ein neuer spezifischer, lokaler Unfalltypus. Ich sage immer, man hat die
Eisenbahn erfunden und damit auch das Entgleisen. Schiffe, die Titanic,
sinken an einen bestimmten Ort, an einen bestimmten Tag. Wir aber schafften
mit dieser Einheitszeit, dieser Echtzeit, Weltzeit, den Unfall der
Unfälle, um mit Epikur zu sprechen. Das heisst, die historische Zeit
selbst erleidet den Unfall durch das Erreichen dieser Grenze der
Lichtgeschwindigkeit, könnte man sagen.
Mein Eindruck ist, dass das, was man uns als Fortschritt der Kommunikation
präsentiert, in Wirklichkeit nicht nur ein Rückschritt, sondern ein
unglaublicher Archaismus ist. Die Welt auf eine einzige Zeit zu reduzieren,
auf einen Zustand, in dem sie keine Beschleunigungssysteme mehr entwickeln
kann, ist ein Unfall ohnegleichen, ein historischer Unfall wie es ihn nie
gegeben hat. Wie es Einstein höchst treffend nannte, 'eine zweite Bombe'.
Die erste Bombe war die Atombombe, die zweite ist die Informationsbombe,
nämlich die Bombe welche uns die absolute Zeit, die Grenzzeit, um nicht
zu sagen die Nullzeit, d.h. die Echtzeit bringt. Ich glaube, das was Sie
über die Rechenleistung sagen gilt auch für die Fähigkeit, die Welt zu
sehen, die Fähigkeit sie zu gestalten, sie zu lenken, aber auch sie zu
bewohnen.
Friedrich Kittler: Wahrscheinlich gehen dann auch die beiden von Einstein bezeichneten
Gefahren historisch und systematisch zusammen. Es ist eine der
grassierenden Ideologien von heute, zu behaupten, die Kommunikation würde
durch die neuesten Hochtechnologien befördert. Wir wollten immer schon
miteinander reden und nun kommt es besonders schnell, effizient und global
über die Netze. In Wahrheit sind die Atombombe und die Computer beide
Produkte des zweiten Weltkrieges. Kein Mensch hat sie bestellt, sondern die
militärische und strategische Situation des zweiten Weltkrieges hat sie
notwendig gemacht. Also, es waren von vornherein keine
Kommunikationsmittel, sondern es waren Mitteln des totalen Krieges und des
strategisch geplanten Krieges. Was jetzt als spin-off in die Bevölkerung
hineingestreut wird, wobei ich nicht sagen würde, es wurde weltweit
gestreut, sondern die Dominanzen des Netzes sind natürlich klar Amerika,
Kalifornien und Europa und Japan. Was ich nicht glaube, ist dass es schon
die letzte Grenze erreicht hat, die Beschleunigung. Dass die Katastrophe
sozusagen in der Unüberbietbarkeit der aktüll herrschenden übertragungs-
und Berechnungsgeschwindigkeiten steckt, sondern es ist immer noch
strategischer und ökonomischer Gewinn daraus zu ziehen, dass man ein
System hat, das schneller ist als das andere System.
Es ist immer noch
möglich zu unterscheiden zwischen geheimen Maschinen und öffentlich
verkauften Maschinen, die sich durch ihre Geschwindigkeit unterscheiden,
durch ihre Leistungsfähigkeit. Und es ist immer noch nicht ausgemacht, wie
die Sachen weitergehen, weil die Lichtgeschwindigkeit zwar eine absolute
Grenze, im Vakuum wohlgemerkt, ist, aber in den real existierenden
Technologien läuft die Elektrizität substantiell langsamer als im Vakuum
und es werden furchtbaren Kämpfe noch laufen in Richting Beschleunigung,
optischer Schaltkreis anstelle von Silicium, das werden Faktoren von
einigen Millionen Beschleunigung sein, sodass ich also Schwierigkeiten
habe, die Apokalypse bereits eingetreten zu sehen.
Nur die Zeit der
Menschen ist, glaube ich, ein für allemal unterlaufen. Die Frage, die für
mich brennend ist, ist wie Kultur und Politik darauf reagieren, auf die
langsame Depositierung ihrer eigene Mächte. Sie haben sich so auf die
Alltagssprache und deren Langsamkeit, so auf die Nerven und deren
Langsamkeit verlassen, und sind jetzt selber nicht mehr führbar ohne
Maschinerien, die Entscheidungen vorbereiten und am Ende sogar noch
treffen. Also wie man als Philosoph und als Politiker reagiert.
Paul Virilio: Sie haben völlig zurecht vorhin den zweiten Weltkrieg erwähnt, aus
dem diese Technologien hervorgegangen sind. In der Tat muss man sagen, dass
mit der Innovation Atombombe etwas ganz anderes erfunden wurde, das im
übrigen heute eine Krise erlebt, ich meine die nukleare Abschreckung. Muss
man nun nicht in Zusammenhang mit dieser zweiten Bombe, der
Informationsbombe, Wege der Interaktivität, und ich gebe zu bedenken, dass
die Interaktivität in gewisser Weise eine Form von Radioaktivität ist.
Das ist nicht nur eine Metapher, sondern ein konkretes Bild. Muss man also
nicht bereits für das nächste Jahrhundert mit einer anderen Form der
Abschreckung rechnen? Ich meine nicht die militärische Abschreckung, zur
Verhinderung des Einsatzes der Atombombe, sondern eine gesellschaftliche
Abschreckung zur Verhinderung der Schäden durch den Fortschritt der
Interaktivität. Denn eine globale Gesellschaft, die in der Echtzeit lebt,
vom unmittelbaren Datenaustausch, ist undenkbar. Oder halten Sie sie für
denkbar?
Wenn ich Freunde höre, deren Namen ich hier nicht nennen möchte, die von
einem riesigen Weltgehirn sprechen, in dem jeder einzelne Mensch nur noch
ein Neuron ist, das auf anderen Neuronen reagiert. Der Mensch also nicht
mehr ein irdisches, sondern ein neuronales Wesen ist, muss ich genau daran
denken. Sind wir nicht schon dabei, was unsere Arbeitswelt angeht, unseren
Wohnungsbau, eine gesellschaftliche Abschreckung zu erfinden und
vorzubereiten. Das heisst eine Abschreckung, um die negativen Folgen dieser
Augenblicklichkeit des Handelns und der Information für die ärmsten und
Schwächsten zu verhindern? Ist Ihrer Meinung nach eine Abschreckung der
augenblicklichen und globalen Information vorstellbar?
Es geht für mich
dabei um das Risiko einer Tschernobylkatastrophe mit schädlichen Folgen
für die Lebensweisen der Menschen, für das Sozialverhalten. Gibt es nicht
schon heute Hinweise auf eine solche soziale Desintegration, ein
Auseinderfallen der Gesellschaft, von Paaren usw. Ist nicht die
strukturbedingte Massenarbeitslosigkeit bereits ein Effekt, ein
Niederschlag, fall-out dieser Informationsbombe? Und wir stehen erst am
Anfang. Was halten Sie von dieser sozialen Dimension der Information,
Delokalisation, Automatisierung der Möglichkeit, augenblicklich von einem
Ort auf einen anderen in der Welt einwirken zu können?
Hat dies nicht eine
Dimension, die Sie problematisch finden? Ist nicht bereits die
Massenarbeitslosigkeit, die ja nicht mehr konjunkturbedingt sondern
strukturell ist, bereits eine Folge dieses Unfalls, von dem ich söben
sprach, dem Unfall der Zeitlichkeit? Stehen wir damit nicht bereits vor
einem Problem?
Friedrich Kittler: Sicher, die Massenarbeitslosigkeit von heute ist bestimmt von der
Automatisierung der Produktion bestimmt. Ich habe nur das dumpfe Gefühl,
>dass die Soziologien und Politiken selber etwas daran schuld sind, dass da
soviel Arbeitslosigkeit auftritt. Die Technologie selber ist die einzige
>Technologie, die ich kenne, die wirklich radikal umprogrammierbar ist, also
wo ständig neue Sachen gemacht werden könnten, im Unterschied zur
Fabrikationsstrasse, die damals Henry Ford in Detroit errichtete, wo ein
einziges Automodell zehn Jahre lang drüber gelaufen ist.
Man könnte also
mit dieser Basistechnologie, die wirklich zur Innovation erfunden worden
ist, alles andere innovieren. Aber es wird ja auch systematisch im Konzept
von Gesellschaft und im Konzept von Bildung daran festgehalten, dass den
Leuten der Zugang zu dieser Technologie versperrt wird. Es gibt ein
grassierenden Computeranalfabetismus, computer illiteracy, die wird
hergestellt, die wird auch durch Propaganda, Werbung und falsche
Verkaufsstrategien hergestellt und hindert sehr viele Leute draufzusteigen.
Für die Hacker von heute habe ich, was Arbeitslosigkeit betrifft, keine
Angst.
Das ist aber eine ziemliche Teilantwort auf die Frage.
Was das
Tschernobyl der Information angeht, das hat sich ja vielleicht an diesem
Börsenkrach schon einmal provisorisch abgezeichnet, was das heisst, wenn
alle Börsengeschäfte über weltweite Netze gehandelt werden. Und dagegen
werden ja permanent Massnahmen ergriffen, also die gute alte Zeit, in der
jeder auf seinem Computer machen durfte, was er wollte, ist längst vorbei.
Wir werden alle kontroliert auf unseren Maschinen und je vernetzter die
Maschinen werden, desto strenger werden die Kontrollen und die
Schutzmechanismen. Und die Bürokratien, die eingebaut sind.
Das Netz wird
auch bestenfalls dieses Jahr noch frei sein, im nächsten Jahr gehört es
wahrscheinlich dem grossen Geld, und dann funktionieren die Kontrollen. Das
wäre die andere Gefahr, dass gerade zur Verhinderung eines informatischen
Tschernobyls die Kontrollmechanismen, die informatischen Bürokratien, im
Verbund mit sehr viel Kapital derart ausweiten, dass die versprochene
Liberalisierung der Information überhaupt nicht stattfindet.
Also im
Gegenzug einer möglichen Systemzusammenbruchgefahr eine neü Hierarchie
aufgebaut wird, die dann strukturell dieselbe Hierarchie ist wie die
zwischen Computerliteraten und Computerilleteraten. Auf der einen Seite
die, die Kode noch verstehen, so wie die Kryptographen und Kryptologen des
zweiten Weltkrieges, und auf der anderen Seite die Massen von Milliarden
von Menschen, die ausgeschlossen werden aus Sicherheitsgründen.
Paul Virilio: Immer wenn Technologien schneller gemacht wurden gab es Akkumulation
und Konzentration. Heute erleben wir, ob mit Time-Warner oder Turner, einen
Gigantismus der Konglomerate, der Monopole, im übrigen noch begünstigt
durch den Wegfall der Anti-Monopolgesetze, der diese zentrale Steürung
überhaupt möglich macht. Zur gleichen Zeit da man uns erzählt, Internet
bringt uns die Freiheit an Ort und Stelle, erleben wir wie sich ganz
zufällig Trusts bilden, die Weltkonzerne, keinen blossen multinationalen
Unternehmen mehr sind.
Ich frage mich nun, ob durch diese Illusion der
Freiheit durch Information nicht eine Einheitlichkeit der Welt larviert
wird die zulasten ihrer Vielfalt, ihres gedanklichen Erbes, ihrer Kultur
ganz einfach geht. Wir wissen wie das Medium, ganz gleich im welchen Fall,
die Verlagerung vom Geschriebenen zum Bildschirm verarmt. Wir wissen um die
Verarmung durch den Computer.
Ob wir es wollen oder nicht, der Computer
synthetisiert Information. Jeder der einen Synthesizer in der Musik
verwendet, zum Beispiel für Geigenmusik, weiss genau, dass eine echte
Geige anders klingt als ein Synthesizer. Und der Computer ist nichts
anderes als ein Informationssynthesizer. Der Informationsgehalt wird
semantisch reduziert, die Kognitivisten wissen dies im übrigen genau, und
auch dies ist ein Umstand, den man berücksichtigen müsste. Die
Synthetisierung der Information, die Verarmung der Inhalte, wird aber nicht
beachtet.
Wie immer wird alles Negative verschwiegen, interessanterweise immer
larviert. Wie kann man vorgeben, Technologien zu entwickeln, ohne sich auch
gleichzeitig Wissen über damit verbundenen spezifische Unfallrisiken zu
erwerben? Und das gilt fürs Fernsehen, genauso wie für Multimedia.
Friedrich Kittler: Man muss es wahrscheinlich so machen wie Bill Gates und die Sachen so
verkaufen als seien sie nicht die Sachen wie sie sind. Man verkauft
Computer und sagt, das sind Schreibtische, desktops, oder man sagt, es sind
Fernsehgeräte, oder die Fernsehgeräte der Zukunft. Auf diese Weise kann
man die Maschinerien, mit ihren systemspezifischen Schwächen vernebeln und
gut verkaufen.
Das ist eine sehr amerikanische Werbestrategie, und es
lässt daraus schliessen, dass die Trust- und Konzentrationsbewegung die
ergriffene und vielleicht auch letzte historische Chance der Amerikaner
sind, die Pax Americana auf technologischen Weg zu halten. Nachdem der
ganzen technologischen Vorsprung schon nach Japan abgewandert schien, hat
Amerika es geschafft in den neunziger Jahren, aufgrund seiner
elektronischen und computertechnischen Vorsprünge vor allem die Standards
zu definieren, unter denen wir heute auf den Netzen und Maschinen
kommunizieren.
Und es ist wirklich nicht ausgemacht, dass die Standards, so
wie sie sind, die mathematisch oder menschlich besten sind. Das kann man
noch unterscheiden, aber es sind beides zwei wichtige Gesichtspunkte, die
in diese Standardisierung oder Vereinheitlichung, weltweite Globalisierung
nicht eingehen und es ist eigentlich rätselhaft, weshalb kein Mensch und
kein Kopf, keine Industrie in Europa irgendeinen Versuch macht, diese
Standards, so wie sie sind und wie sie über den grossen Teich kommen, als
neue Form der Pax Americana, in Frage zu stellen.
Paul Virilio: Die neuesten Technologien lassen den Raum in seiner Ausdehnung und
Dauer verschwinden. Sie reduzieren die Welt auf ein Nichts, wie man sagt.
Das ist ein tiefgreifender Verlust, auch wenn man es nicht zugibt, und
niemals zugeben wird. Es gibt eine Verschmutzung, nicht nur der materiellen
Umwelt, der Fauna und Flora, die Umweltschützer wissen das, sondern auch
der Distanzen und der Zeiträume, die mich im Hier und Jetzt leben lassen,
an einem Ort und in der Beziehung zu anderen Menschen, die durch
Begegnungen entsteht, nicht durch eine Tele-Präsenz, eine Tele-Konferenz
oder Tele-shopping. Was denken Sie über diesen Verlust? Setzen wir uns
nicht damit selbst und der Welt ein Ende? Wenn es einige akzeptieren
können, die Ausdehnung im Raum zu verlieren, wie wir die Zeitdauer, die
lange Dauer, verloren haben.
Friedrich Kittler: Ich sehe bis jetzt einen radikalen Verlust an Raum, weil sich das alles
ja im Miniaturraum der Schaltkreise abspielt. Und der ganze Witz daran ist,
ich habe immer noch Schwierigkeiten zu sehen, dass die Zeit wirklich
geschluckt ist. Mein Lieblingsspiel ist eigentlich Computergrafik. Ich
nehme ein winziges Stück Welt, ein ganz bescheidenes
zentralperspektivisches und schreibe ein Program und lasse das Ding
rechnen.
Ich brauche für ein Bild, für das der Photograph seine bekannte
1/30 Sekunde braucht, auf einem sehr guten Rechner ungefähr sechs Minuten,
und dann kommt das nächste Bild. Die Simulation, oder die Synthese von
Bildern dieser irdischen Welt ist immer noch nicht Echtzeit und die
Schwerigkeiten, die die Leute haben, jetzt, bei den computergenerierten
Filmen, die brauchen für einen Dinosaurier 20 Stunden Rechenzeit und der
Dinosaurier läuft dann in drei Sekunden übers Bild.
Da ist immer noch
sehr die Zeit im Spiel und der historische Moment, wo wirklich die Zeit der
Welt eingeholt werden würde, ist noch lange vor uns. Deshalb die ganzen
Kämpfe.
Mit dem Verlust der Nähe könnte ich leben, langsam. Wieder ein
Beispiel aus dem Leben. Es ist langweilig unter dem Betriebssystem DOS mit
drei Befehlen sich durchs Leben zu quählen, also, zeige Direktorien an,
lösche und bewege Direktorien.
Aber sobald man sich in UNIX begibt, dann
ist man von Anfang an ein Mensch unter ungefähr 300 Programmen, von denen
man bestenfalls 10 kennt. So im Lauf der ersten Monaten lernt man dann 20
Programme kennen, dann 40, dann 100. Dann ist man sehr überrascht dass man
gar nicht mehr alleine ist, sondern mit 100 Programmen lebt, von denen man
20 braucht, und langsam stellt man fest, dass man 2, 3 Programme nie
kennengelernt hat, weil die im Hintergrund laufen.
Der Name dieser
Programme ist überigens 'Dämonen'. Die haben eine ganz merkwürdige
Nähe. Man sieht sie nie, sie tun aber immer etwas für einen, wie die
Engel in Angelo Logi des Mittelalters und ich habe fast den Eindruck, als
sollte man die alten Soziologenträumen langsam fallenlassen, in denen
gesagt wird, die Gesellschaft ist eo ipso natürlicherweise nur aus
Menschen zusammengesetzt.
Die Gesellschaft und die Nähen und Fernen von
Heute und Morgen und übermorgen werden Menschen und Programme in
irgendeiner seltsamen Mixtur einbeziehen. Das gibt, denke ich schon,
Möglichkeiten der Nähe, weil die Programme ja manchmal nicht dumm sind,
deshalb sind sie ja geschrieben, manchmal intelligenter als der Nachbar um
die Ecke.
Paul Virilio: Aber das ist doch ein Verlust. Jeder Neuerwerb geht mit einem Verlust
einher. Jeder technische Fortschritt führt auch zu einen Verlust. Wir
wissen doch sehr gut, dass heute der Verlust sozialer Bindungen mit diesem
Untergang, mit dieser Missachtung des Nächsten verbunden ist. Der
Nächste, also jemand der materiell existiert, der schlecht riecht, der
langweilt, der stört, den kann man nicht wegzappen usw.
Man hat sogar
Deodorants erfunden, damit man ihn nicht riechen muss. Das ist im übrigen
ein Grund für die Krise der Städte heute, der bevölkerten Orte. Ob
Seefahrer, Menschen der Wellenmechanik oder Menschen der Erde, es gibt
einen Ort, an dem bevölkert wird, an dem man lebt.
Heute aber ist es nicht
der Nächste sondern der Entfernte, der bevorzugt wird, derjenige der in
diesem seltsamen Fenster, auf diesen seltsamen Bildschirmen erscheint. Er
wird priviligiert, zulasten dessen der ganz in der Nähe ist.
Das reicht sogar bis in die Ehe hinein. Das sieht man doch an den
sogenannten getrennt lebenden Paaren, Männer und Fraün, die in getrennten
Wohnungen leben, als seien sie bereits geschieden. Und die Kinder lernen
dabei ganz nebenbei, ständig zwischen Vater und Mutter hin und her zu
pendeln. Und das ist nur der Anfang, denn der Cybersex beweist uns schon,
dass man demnächst auf Distanz miteinander verkehren kann, d.h. wirklich
seinen Entfernten lieben wie sich selbst, weil die echte Frau, die man hat,
langweilig ist und weil Präservative nicht sehr zuverlässig sind. Da
haben wir doch ein Universalpräservativ.
Wir haben eine Technologie
erfunden mit der man sich über tausende von Kilometern hinweg lieben kann,
ohne sich zu berühren. Ist das nicht eine Metapher des Zerfalls? Ich meine
nicht nur der Trennung von Paaren, sondern der Trennung sozialer Bindungen,
ja sogar nicht nur der Trennung zwischen zwei Menschen, sondern des
Kopulationsaktes selbst. Ist das nicht bereits ein Effekt der
Informationsbombe?
Mir scheint, gut ich übertreibe, aber wie sollte man
nicht übertreiben angesichts solcher Umstände?
Ich habe wirklich den Eindruck, dass das 19. Jahrhundert, die Kernphysik,
der Zerfall der Materie, ebenso wie die Kunst, der Pointillismus, der
Divisionismus und natürlich auch die Fraktalgeometrie, auch
gesellschaftliche Auswirkungen haben. Das heisst, dieser Zerfall betrifft
auch die Sozialstruktur, den Einzelnen selbst, bzw. die Zweierbeziehung des
Paares, das ja die eigentliche Grundlage der Schöpfung der
Menschheitsgeschichte ist, denn die Demographie ist ja ein die Geschichte
gestaltendes Element. Das ist doch von gewisser Bedeutung, oder nicht? Denn
ich habe nichts gegen Programme, aber ich wünschte mir, sie würden auch
von den Männern und Fraün sprechen. Was meinen Sie dazu?
Friedrich Kittler: Die Fraktalgeometrie ist erfunden worden, um die euklidische Geometrie
etwas komplizierter zu machen. Plötzlich eine Welt, die nicht mehr bloss
mehr aus Rechtecken und Kreisen und graden Linien besteht, sondern eine
Welt, die aus Schwengen und Wolken besteht und all den schönen Dingen,
denen vermutlich auch das menschliche Fleisch relativ nahe steht, nicht
etwa den rechteckigen Gebilden von Le Corbusier oder den etwas
komplizierteren von Phidias von Athen.
Im Prinzip sind solche Sachen wie
die fraktale Geometrie, die schlichtweg nur durch Computerpower errechenbar
wurde und vorher immer nur gedacht werden konnte, aber nie gemacht werden
konnte, Dinge die eigentlich der Komplixität der Männer und Fraün mehr
entgegenkommen als Euklid. Euklid würde etwa entsprechen den Verfahren,
wie im 18. Jahrhundert junge Rekruten gedrillt worden sind. Das hat
Foucault, und Sie selbst, sehr schön gezeigt, die gerade Haltung des
Rekruten, der selber eine Linie bilden soll in seinem Regiment, in seiner
Kampflinie.
Heute entsteht eine neu, Chaosmathematik und das könnte ein
Modell sein, das nicht unbedingt alle Paare auseinanderreisst, sondern die
Komplexität von Individün besser beschreibt. Und die Theorie der
Rückkopplung könnte ja, wenn's gut ginge, auch die Beziehung zwischen
Paaren besser beschreiben. Grob gesprochen, die Freudsche Theorie des
Verhältnisses von Fraün und Männern scheint mir dümmer zu sein als die
Theorie, die Bateson auf der Basis von Rückkopplungsschleifen gemacht hat.
Zu zeigen, dass wenn ich zu dir das sage, und du wieder das sagt, und ich
daraufhin das sage, weil du mir das gesagt hast und ich das im guten und
bösen Sinne hochschaukeln kann, scheint eine viel vernünftigere
Beschreibung von Sozialbeziehungen zu sein, als die Beschreibung mit
internen Imagines, die einen ewigen, lebenslangen Krieg gegeneinder
führen. So eine Rückkopplungsbeschreibung von Beziehungen ist
selbstverständiglich basiert auf Nachrichtentechnik und ist nicht aus der
Psychologie abzulesen gewesen, als sie auftauchte.
Die Modelle, die heute verfügbar sind, um Komplexität zu beschreiben,
sind besser als vorher. Warum die Leute dann trotzdem ins Unglück laufen
in ihrer Einsamkeit, vielleicht auch ich selbst, ich sitze oft lieber am
Computer, als dass ich andere Sachen mache oder mich unterhalte, das muss
irgendwie die Faszination von Macht sein, so wie früher Leute ihre Liebe
von ihrer Frau abgewendet haben und auf ein Bild von Jesus oder Maria
gelenkt haben, so geht das heute in die Technologien hinein. Ist das die
Technologie selbst, die unseren Eros, unsere Libido abzieht, oder sind das
die Leute, die sie verkaufen?
Paul Virilio: Ich glaube tatsächlich, dass heute eine neue Kaste von
Technologiemönchen heranwächst, und dass es in der Tat heute Klöster
gibt, die dabei sind, einer 'Zivilisation' den Weg zu bereiten, die gar
nichts zu tun hat mit der Zivilisation unserer Erinnerung.
Die Arbeit wird
heute nicht wie im Mittelalter gemacht, sondern durch die Aufarbeitung des
Wissens wie zu früheren Zeiten, der Antike. Der Beitrag der Mönchen zur
Wiederentdeckung der Antike ist ja bekannt. Es sind Technologiemönche an
der Arbeit und nicht etwa Mystiker, die alles daransetzen, eine neue
Gesellschaft ohne Bezugspunkte zu schaffen.
Wir haben es zu tun mit einem
technischen Fundamentalismus, nicht nur mit einem mystischen
Fundamentalismus, im Sinne von Monotheismus, sondern im Sinne eines
Informationsmonotheismus. Nicht mehr mit dem Monotheismus der Schrift, des
Korans, der Bibel, des neuen Testaments, sondern der Information im
weitesten Sinne. Und dieser Monotheismus entsteht unabhängig von allen
Kontroversen. Er ist das Ergebnis einer Intelligenz ohne Gedächtnis und
Vergangenheit.
Und damit verbunden ist meiner Meinung nach die grosse
Gefahr, eine Entgleisung, des Abgleitens ins Utopische, in eine Zukunkft
ohne den Menschen. Und das macht mir Sorgen. Ich glaube, aus diesem
Fundamentalismus entsteht Gewalt, Hypergewalt.
Zur Zeit redet man ja viel über die Gefahren des islamischen
Fundamentalismus, Bomben usw. Das sind Splitterbomben. Ich glaube aber, es
wird tatsächlich an Informationsbomben gearbeitet, die die gleiche
zerstörerische Wirkung auf den Sozius haben, insofern als der Sozius, oder
die Gesellschaft, Gedächtnis ist, d.h. verwurzelt nicht an einem Ort, im
Hier und Jetzt, sondern in einer Vergangenheit, die ihre eigene Struktur
hat und die die Gegenwart strukturiert. Wir sind nur der Spross des
Gewesenen. Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie noch
einmal zu erleben, sagt man. Und genau das passiert in gewisser Weise mit
diesem Feudalismus der neuen Technologien, mit dieser Form von
Informationsimperialismus. Und ich glaube, ich bin überhaupt kein Gegner
der Information.
Aber mit dieser totalitären Dimension setzt man sich
nicht genug auseinander. Und es wäre doch angebracht, dass sich auch diese
Technologiemönche, zu denen ich Sie nicht zähle, mit dieser Sünde
beschäftigen. Denn auch im technischen Fundamentalismus gibt es Sünden,
deren Folgen, deren schädlichen Auswirkungen wir heute erleben.
Auswirkungen des Fortschritts heisst es, aber es bekennt sich keiner dazu.
Diese Mönche kennen diese Sünden nicht. Es gibt einfach Arme und
Menschen, die verrecken. Wie denken sie über die fundamentalistische
Dimension der Information?
Friedrich Kittler: Ich sehe es genauso. Er ist aber wahnsinnig spannend, dieser neü
Integralismus. Natürlich vergessen die Leute, die das alles programmieren,
die Geschichte Europas, die das möglich gemacht hat. Wenn man diese
Geschichte wieder bedenkt, kann man sehr klar sehen, wie das präzise vor
allem aus der Gutenbergischen Erfindung des Buchdrucks und der modernen
Algebra herausgekommen ist. Beide sind ungefähr gleichzeitig um 1450-1500
entstanden.
Der Buchdruck konnte alles kopieren und abschreiben und die
Algebra konnte alles berechnen, aber die beiden liefen nicht zusammen. Wenn
man schrieb, musste man immer noch Polizei oder Liebe einsetzen, damit die
Leser taten was man beschrieben hat. Wenn man programmiert, dann tritt ein
richtiger Integralismus auf. Man schreibt nicht nur, sondern das, was man
schreibt, wird getan vom Programm.
Das Versprechen des Buchdrucks und das
Versprechen der modernen Mathematik endlich zusammengekommen, nach 500
Jahren Latenzzeit Europas, das ist eine unendliche Macht, wirklich eine Art
von Integral, in das alle vorher getrennten einzelnen Technologien,
Metallurgien, Halbleitertechniken und Elektrotechnik eingeht. All diese
Basteleien, die sich abgespiegelt haben. Es ist sehr schwer anzugeben, ob
es da noch eine Grenze gibt, ich glaube, das ist die im Moment dringlichste
Frage.
Es gibt im Grunde nur ein paar weitsichtigen Physiker, die sagen, das
Prinzip der Digitalisierung selber ist wunderbar, hat aber internen
Leistungsgrenzen, die alle Werbung wegleugnet und die bestehen in dem
schlichten Satz, dass die Natur selber kein Computer ist und dass deshalb
bestimmte komplexe Phänomene des Menschen, der Natur prinzipiell,
ausserhalb der Berechenbarkeit des heute herrschenden Paradigmas liegen.
Das ist eigentlich die einzige vernünftige Hoffnung, die ich hegen kann,
dass wir nicht am Ende der Weltgeschichte angelangt sind. Denn wenn die
Digitalrechner keine internen Grenzen hätten, dann würden sie wirklich
die Weltgeschichte zu Ende bringen, in all den Punkten, die Sie gesagt
haben: die Zeit ist nicht mehr die Zeit des Menschens, der Raum ist nicht
mehr der Raum des Menschen, sondern ist ein Gang in diesen kleinen
Wunderdingen. Aber wenn diese Wunderdinge selber Schranken haben, dann kann
man sich problemlos ein 22. oder 23. Jahrhundert vorstellen, in dem das
Prinzip der Digitalmaschinen nicht gerade über Bord geworfen wird, aber
ergänzt wird durch irgendein neues, zu erfindendes Prinzip.
Paul Virilio: Wäre es aber nicht an der Zeit, dass diejenigen, die Maschinen baün
und ihre Vorzüge loben, nicht die, die sie verkaufen, meine ich, sich
zusammentun um diese Grenze auszutesten, diese Schadwirkung, dieses
spezifisch Negative der Information. 1888 trafen sich die Erfinder der
Eisenbahn, die Erbaür der Schienennetzen Europas, in Brüssel.
Warum? Weil
die Entwicklung der Dampfmaschinen voranging, die Lokomotiven immer
leistungsstärker wurden, die Tiefbauingenieure immer phantastischeren
Tunnelbauwerke konstruieren und schwingungsfeste Stahlbauwerke bauen
konnten usw. usf.
Aber es gab ein Problem. Die Verkehrsführung hielt nicht
schritt mit der Leistungsentwicklung der Maschinen. Darum trafen sie sich
alle in Brüssel und erfanden das, was man heute die Verkehrsleittechnik
nennt. Man entwickelte das sogenannte Blocksystem. Das Wort gefällt mir
übrigens.
Wenn der TGV heute gut funktioniert, dann deshalb, weil es das
Blocksystem gibt und die Signalerfassung im Führerstand des Zuges. Das
bedeutet, es gibt praktisch kaum noch Unfälle. Man ist vom Negativen
ausgegangen um das zu regeln, was nicht funktionierte, nämlich den
Verkehr. Man hat Gleiskontakte erfunden, Fahrsignale, das bereits war eine
Form der Daten- und Signalverarbeitung die hoch entwickelt war.
Warum gibt
es also heute angesichtlich der schädlichen Folgen der Arbeitslosigkeit,
der Fehlentwicklungen im Städtebau, warum gibt es kein Colloquium über
diese Kehrseite des informationstechnischen Fortschritts? Warum
beschäftigen wir uns nicht, ähnlich wie die Ingenieure des 19.
Jahrhundert das spezifischen Unfallsrisikos der Eisenbahn, nämlich der
Entgleisung, annahmen, heute mit dem spezifischen, zugegeben, immateriellen
Gefahrenpotential der Datennetze, der Entstehung einer Sozialkybernetik.
Wenn ich mich recht entsinne fürchteten bereits Alan Turing und Norbert
Wiener die Anwendung der Sozialkybernetik auf die Gesellschaft. Und uns
erzählt man heute, das sei der Fortschritt. Cyberspace, die kybernetische
Regelung des Soziallebens sei der Gipfel der Demokratie, vor allem von Ross
Perot hört man das.
Mir scheint, es wäre an der Zeit, dass diejenigen, die an den Programmen
arbeiten, sich auch mit einem Gegenprogramm beschäftigen, um die Grenzen
dieses Prozesses auszuloten. Aber warum verwenden sie ihre Intelligenz
nicht darauf, die Technik in Auseinandersetzung mit ihren negativen Seiten
weiterzüntwickeln? Warum verschleiern sie immerzu die Erbsünden dieser
Technik, während man doch den Schiffbau vorangebracht hat, indem man die
Schiffe wasserdicht machte, die Flugzeugtechnik, indem man die Motoren
besser steuerbar machte, und natürlich durch die Flugüberwachung und die
Fluglotsen. Warum gibt es sowas nicht?
Friedrich Kittler: Ich habe eine einzige Antwort, die aber völlig idiosynkratisch ist.
Wie schon bei den Columbia-Unfall, verfallen vor allem amerikanische Firmen
in eine Hälfte von Ingenieuren und eine Hälfte von Händlern, Kaufleuten
und Juristen, und die Sprecher sind immer die Juristen und eventuell treten
noch die Professoren von MIT hinzu.
Und ich kenne keine einzige größere
Firma, die in den Händen von Leuten wäre, die die Sachen selber
programmieren. Sondern die Leute, die programmieren, die also wissen wo die
Negativität der Systeme sitzt, werden grundsätzlich als
Programmiersklaven gehalten, das ist ein Ausdruck in der Branche, tut mir
leid.
Und die Leute, die Propaganda machen, denen das gehört, wie Bill
Gates, haben vielleicht vor 20 Jahren fünf Zeilen geschrieben und das dann
gelassen. Dieser Schnitt verhindert eigentlich Diskussionen, diese
Negativität, und die Leute, die Sie vorhin zitierten, sind eigentlich
freie Wissenschaftler, die sich als Physiker Gedanken machen, die aber
nicht in der Industrie tätig sind. Vielleicht wenn Europa so sesshaft ist,
könnte wenigsten das seine Aufgabe sein, dass wir hier eine Diskussion mit
den Leuten, die die Systeme bauen, planen und entwerfen, veranstalten.
Paul Virilio: Warum nicht in Brüssel? Weil eben doch auch die Blocksystemkonferenz
in Brüssel stattfand. Ich glaube, Sie haben eben das entscheidende Wort
genannt, 'Unternehmen'. Information kann kein Unternehmen sein, sie ist die
eigentliche Materie der Welt. Was wir gerade tun hat nichts mit unternehmen
zu tun, das ist ein Dialog, ein Gespräch. Wie kann man aber die Frage der
Information auf Unternehmen beschränken?
Mehr noch, auf Unternehmen, die
sich auf ein absolutes Monopol hinentwickeln? Wir stehen vor einem
Phänomen der Tyrannei, einer Tyrannei der Echtzeit, der Information, die
ja ein Alltagsprodukt wie der elektrischen Strom sein sollte. Wenn aber
etwas kein Alltagsprodukt ist, dann ist es doch die Information.
Wir stehen
vor einem Phänomen der Materie, ihrer Masse und Energie, die ihrem Wesen
nach die Geschichte und das Sein konstituiert. Sprache und Sein ist
dasselbe. Sein ist sprechen. Das lateinische Wort für Kind, 'Infant',
bedeutet doch, 'der nicht spricht'. Man hat also aus der Information ein
Fertigprodukt gemacht, ein Weltunternehmen.
Was ist das für ein Drama, das
man uns da als Fortschritt zu verkaufen wagt? Ich reg mich darüber auf,
weil ich glaube, dass Europa zur Zeit eben überhaupt nicht darauf
reagiert. Die Verantwortlichen für den Bereich neue Produkte haben sich
doch vor einem Jahr in Brüssel getroffen und man hat ihnen die neuen
Systeme, die neuen Produkte schmackhaft gemacht. Und diejenigen, die dort
hingegangen sind, um doch ein wenig zur Skepsis zu mahnen, und die gesagt
haben, es gibt da vielleicht doch das eine oder andere Problem, die hat man
wie den letzten Dreck behandelt. Und das an dem Ort, an dem Europa
gestaltet wird oder entstehen soll.
Friedrich Kittler: Das ist die Katastrophe. Das Zusammenschmeissen eines alten, aus der
Goethezeit stammenden Copyright und Eigentumsrechts an geistigen Produkten
mit der neuen Entdeckungen der digitalen Maschinen. Die Definition war die
einer Maschine, die alle anderen Maschinen imitieren kann.
Diese Definition
schafft eigentlich jedes Urheberrecht und jedes geistige Eigentum ab, weil
es genau diese Maschine ist, die jede andere Maschine, auch uns, in dieser
Hinsicht, sofern wir denken, imitieren kann. Das war, glaube ich, das
grosse englische Gift, das kurz vor dem zweiten Weltkrieg erfunden ist und
dieses Gift ist nach Amerika importiert worden, und das Problem für
Amerika war, daraus ein profitables Geschäft zu machen. Und das scheint in
den letzten 50, 60 Jahren wunderbar geklappt zu haben.
Die skandalösesten Meldungen, die mich erreichen, beziehen sich darauf,
dass es jetzt möglich ist in den USA mathematische Gleichungen zu
patentieren. In 2000 Jahren Geschichte ist das schlechthin verboten
gewesen, das war die freieste aller Wissenschaften, die nicht patentierbar
war. Wenn das geschafft wird und wenn amerikanische Konzerne das
europäische Urheberrecht an Software in diesem amerikanischen Sinne
modifizieren, dann ist genau das Gegenteil erreicht von dem, was damals die
Leute wollten, die die Turingmaschine geschaffen haben.
Das ist eine reale
Drohung, weil die Information nicht privat sein kann und nicht in Eigentum
sein kann. Ich glaube nur nicht, dass diese Strategie auf die Dauer wird
aufgehen können, weil die Maschinen wirklich proliferieren, wie Atombomben
und alle anderen, weil es nicht kontrollierbar ist und weil im Prinzip
darin die allgemeine Imitierbarkeit steckt, dürfte die Software nicht
patentierbar sein, auf die Dauer also nicht schützbar.
Und was die
Hardware angeht, also die Maschinerie selbst, es ist ja so, dass die
Herstellungskosten ständig fallen, mit dem Resultat, dass in 10 Jahren die
heute noch unerschwinglichsten Maschinen für einen Pfennig oder einen
Franc zu haben sein werden. Das ist die andere Dimension, die wirklich
dafür sorgt, dass, ich sage nicht Demokratie, aber zumindest Nicht-
Eigentum vielleicht die Hoffnung sein könnte.
Paul Virilio: Anstatt unser Gespräch von einer pessimistischen Warte zu betrachten,
sollten wir es doch eher vom optimistischen Standpunkt sehen. Wir haben
versucht, bei aller Begeisterung für diesen Tele-Technologien, uns
Gedanken über deren Zukunft zu machen.
Nicht über die Zukunft der
Kommerzialisierung dieser Produkte, die Zukunft des Monopols, sondern deren
zukünftige Entwicklung. Diese Entwicklung verläuft ja nicht parallel zur
Entwicklung des Absatzes der Produkte, sondern zur Entwicklung der
Leistungen. Und die Entwicklung der Leistungen, wie Sie ja gesagt haben,
kommt durch das Erkennen der schädlichen Folgen der Negativität.
Wir sollten vor den archaischen Instinkten derer warnen, die heute
vorgeben, eine globale Informationswelt zu entwickeln, ohne zu analysieren,
inwieweit die inhaltliche Reduzierung eine destruktive Wirkung hat. Nicht
nur auf Kleinunternehmen, auf tausende und millionen Arbeitslose, sondern
auf das, was die Geschichte des Sozialwesens ausmacht, nämlich sein
gedankliches Erbe und seine, über Jahrtausende geformte Struktur. Darin
liegt ein regulatives Element.
Entweder dieses Gedächtnis ist nicht
lediglich das tote Gedächtnis der Massenspeicher eines Computers, sondern
das lebendige Gedächtnis der Arbeitsspeicher der Menschen, oder es gibt
gar kein Gedächtnis mehr, nur noch Gewalt. Und dann explodiert wirklich
die Informationsbombe und es entsteht die Notwendigkeit, und das wäre ein
wahres Drama, einer sozialen Abschreckung.
Und im Vergleich dazu wären die
vierzig Jahre der nuklearen Abschreckung, glaube ich, so gut wie gar
nichts. Etwas sehr viel gefährlicheres als das, was wir vor 40 oder 50
Jahren erlebt haben, etwas das in seinem Totalitarismus sehr viel
gefährlicher wäre als z.B. der Nationalsozialismus oder der Stalinismus.
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