Johann Huizinga
 
 Ein Brief über Europa aus dem Jahr 1933
 
Der niederländische Kulturhistoriker Johann Huizinga wurde 1872 in Groningen geboren. Er lehrte zunächst in Groningen und später von 1915 bis 1940 in Leiden. Seine bedeutendsten Bücher sind "Herbst des Mittelalters" und ein Band über Erasmus von Rotterdam.
Die nachfolgenden Auszüge wurden aus einem Brief an den französischen Schriftsteller und Philosophen Julien Benda entnommen, den Huizinga im Winter 1933 schrieb.
Huizinga geriet nach dem Einmarsch der Truppen der Wehrmacht 1940 im Zuge der von den Nationalsozialisten systematisch betriebenen Hatz auf alle Intellektuellen, die sich nicht bedingungslos in ihre Dienste begaben, ins Konzentrationslager. 1945 starb er dort an den Folgen seiner Haft.
 
"Man sagt uns immer wieder, daß Recht nur eine Form der Macht sei, und daß die Macht herrschen müsse. Man hat die von Aristoteles gesetzte Unterscheidung von König und Tyrann vergessen; vergessen, das große Wort des Augustinus, daß Herrschaft an sich böse ist.
Man kann mit Hilfe von Philosophie und Erkenntnistheorie die Realität der Tugenden leugnen, aber es ist bei gesundem und aufrichtigem Begriffsvermögen unmöglich, die Realität der Laster abzustreiten. Man kann sich der positiven Begriffe begeben, aber nicht ihres Gegenteils. Selbst wenn man uns beweist, daß Recht organisierte Macht genannt werden kann, bleibt Unrecht etwas anderes als unorganisierte macht und verletzt nach wie vor unser Gewissen. Ebenso ist es, wenn man Knechtschaft der Freiheit, Lüge der Wahrheit gegenüberstellt usw."
 
"Wir sehen alle dieser Tage, wie die Vervollkommnung der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und schließlich auch der geistigen Organisation zu einer Erstarrung der Formen und Kräfte geführt hat, die alle Entwicklungsfreiheit der Kultur unterbindet. Unter den heutigen technischen Bedingungen entwickelt jede einmal organisierte Macht ein gewaltiges totes Gewicht, das sie beinahe unerschütterlich macht."
 
"Ich kenne alles Unheil und alle Verwüstungen, die der romantische Geist angerichtet hat. Ich sehe ihn wüten in dem gegenwärtigen Rassefanatismus, den manche - nicht ohne Grund - für ein Erzeugnis der Romantik von Kleinbürgern halten. Wie Sie verabscheue auch ich die Phrase von Blut und Boden ..

Dass die Völker im Winkel ihrer Seele etwas tiefere Kenntnis voneinander haben und ein wenig geheime Liebe füreinander hegen, ist ein Werk der Emfindsamkeit. Nichts läßt uns so völlig alles vergessen, was uns von Deutschland trennt als ein Lied von Schubert (Bach und Mozart stehen über irdischen Verschiedenheiten), nichts läßt uns besser die russische Seele erfühlen als Tolstoi oder Dostojewski.
Die Romantik, obwohl germanischen Ursprungs, ist im Grunde doch europäisch.

Verdammen Sie die Emfindsamkeit nicht ganz; wir brauchen sie, um uns kennen und lieben zu lernen. Lassen Sie uns einen Zipfel von Heimweh und Spuk, berauben Sie uns nicht des Glückes zu träumen."
 
"Nein, die Versuche eines geeinten Europa sind allein in den Bezirken des Geistes zu suchen, in den großen Ideen des Menschengeschlechts, dem Christentum, dem Rittergedanken, der Renaissance, der Gelehrtenrepublik, dem freien Menschentum. Mag man sie auch Illusionen nennen: ihre ständige Wiederkehr in immer neuer Gestalt erweist gebieterisch ihre Notwendigkeit."
 
"Aber selbst wenn sich die Nationen stets gegen ein feindliches Prinzip gebildet hätten, wäre es möglich, daß auf die Dauer dieses ursprüngliche Element der Feindseligkeit erlischt und verschwindet. So liegt der Fall bei kleineren Nationen alter Unabhängigkeit. Kennen Sie kriegerischere Völker als die Skandinavier des hohen Mittelalters und - noch viel später - die Schweden des siebzehnten Jahrhunderts ? Sie sind die friedliebendsten, sozusagen die aufnahmebereitesten Nationen des heutigen Europas geworden. Ihre Natur hat sich ohne jenen großen Verzicht gewandelt, den Sie für unumgänglich halten. Das ewige "gegen Einen" ist der Fluch der großen Nationen. "
 
"Warum eine Einigung der Nationen nur von einem Verschmelzen der Egoismen erwarten ? .. Denken wir uns Europa in musikalischen Begriffen: Polyphonie, Symphonie, Instrumentation, Orchester."
 
"Aber die Sprachen ? An Stelle des Unmöglich gewordenen Latein, empfehlen Sie uns das Französische. .. Aber selbst einem als Einheit gedachten Europa würde es nicht genügen, als Ausdrucksmittel nur das Französische besitzen. Das hieße dem Kenner alle Weine außer dem Bordeaux zu verbieten. .. Ich bewundere Ihre Verteidigung der Vernunft sehr - sie war notwendig - aber gerade um der Vernunft willen verteidige ich die Vielheit der Sprachen in einem Europa, wie wir es uns wünschen."
 
"In der Verschiedenheit von Geist und Esprit liegt mehr als bloß ein verächtlicher Streit nationalen Stolzes. Diese beiden Wörter decken nicht denselben geistigen Raum. Dasselbe gilt von vielen anderen Wörtern, gerade von solchen, die zu den grundlegendsten Konzeptionen des Geistes in Beziehung stehen. Um deutlich werden zu lassen, wie ungenügend Hauptbegriffe in modernen Sprachen übereinstimmen, bitte ich Sie nur sich zu erinnern, daß Erlösung einen viel umfassenderen Sinn hat als Redemption oder Salut, daß andererseits Foi oder Faith mehr umschließen als Glaube, daß Raison nicht identisch mit Vernunft ist und daß es für Schuld in seinem sehr allgemeinen und zutiefst ethischen Sinne weder im Französischen noch im Englischen ein gleichwertiges Wort gibt. Es wäre ein nützliches Werk für alle Baumeister Europas, ein Inventar aller Begriffe auszunehmen, in denen die verschiedenen Sprachen übereinstimmen und so den Boden abzustecken, der sogleich frei wäre für eine vollkommene Verständigung. "
 
"Haben wir Geduld. Das Pendel der Zeiten erreicht die äußerste Grenze seines Ausschlags. Die Geister sind reif für die Antithese, die die These ablöst. Die Ausschweifungen eines zügellosen Nationalismus, wie sie das nun endende Jahr sah, werden ihn ins Abgeschmackte und Lächerliche ziehen. Die nationale Erbitterung, die edle Geister in den Wahnsinn getrieben hat, wird letzten Endes dem europäischen Gedanken dienen. Das Fieber wird fallen. Die großen Irrtümer sind noch immer überwunden worden. "
 
Quelle: Huizinga, Johann: "Geschichte und Kultur", Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1954

 


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