Von Berlin nach Verona
 
 das Kriegsende des Heiner Schickedanz
 
Mein Großvater Heiner Schickedanz (24.November 1905 - 22.Januar 1998) aus Offenbach (nahe Frankfurt am Main) wurde bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zur Marine eingezogen. Nach einer Zeit in Wilhelmshaven auf einem Mannschaftsschiff mit immer wiederkehrenden englischen Luftangriffen auf das im benachbarten Dock gebaute Schlachtschiff "Tirpitz", wird er nach Frankreich geschickt. Nach einigen Wochen in Paris, landet er in der Etappe in Boulogne-sur-mer, an der französischen Kanalküste. Hier führt er das eher beschauliche Leben eines Kriegsberichtserstatters und sendet Berichte über Fußballspiele zwischen Heer und Marine in die Heimat.
Ende 1944 aber soll er nach Riga, zu diesem Zeitpunkt ein fast garantierter Fahrschein in die Hölle. Wie er es schaffte, über eine abenteuerliche Odyssee, den Krieg doch heil und gesund zu überstehen, das hat in seinen Erinnerungen aufgezeichnet und ist hier nachzulesen:
 
Und wieder in Berlin

Mein "Zwischenurlaub" ging schnell zu Ende. Der Weg zu einem neuen Kommando in Riga führte mich über Berlin, wo ich mich zur Weiterleitung melden mußte.
Dort wurde ich zur Minna gemacht, weil ich erst Ende März nach Berlin gekommen war, wo ich Ende Februar in Riga hätte sein sollen. Nur meine Ausweise als Beweise dafür, daß ich zwangsweise festgehalten worden war, retteten mich vor Konsequenzen. "Jetzt bleiben Sie in Berlin", sagte der Kapitän im OKM. Wenn der gewußt hätte, welcher Stein mir vom Herzen fiel, daß ich nicht mehr nach Riga mußte...

Auch in Berlin blieb ich in der Einheit. Am Karlsbad wurde ich zu Verwaltungsarbeiten an den Schreibtisch gesetzt. Persönlicher Chef war Kapitänleutnant Naumann, der damalige Inhaber des Opern-Cafés in Wien, Gesamtchef war Major von Passavant aus Frankfurt, der "Seidenpassavant".

Gewohnt habe ich privat in der Siedlung Eichkamp, in Charlottenburg, nahe der Deutschlandhalle und dem Momsenstadion. Getroffen habe ich sofort in Berlin Frieder Schäfer, den Vereinsvorsitzenden der TGO (Turngemeinschaft Offenbach), der bei der Arbeitsfront in Berlin dienstverpflichtet war. Wir waren fast jeden Abend zusammen.

Das war 1944 kein Honiglecken in Berlin. Vor allem ich als Selbstverpfleger hatte alle Mühe, mit meinen Lebensmittelkarten zurechtzukommen. Eine krumpelige Verkäuferin im nahen, vernagelten, weil auch schon beschädigten, Reformhaus hat mir manche Portion ohne Marken zugeschoben. "Tumernichte" hat die weitaus ältere, mit stacheligen Barthaaren im Gesicht nicht gerade hübsche Dame geheißen. Ich habe ihr auch nichts getan, auch wenn sie mir sehr geholfen hat.

Mein Dienst bestand in Karteiführung. Mein Chef hatte bald gemerkt, daß ich diese Arbeit im Griff hatte, und hat dann mehr durch Abwesenheit geglänzt. Da er mit Major von Passavant befreundet und dort immer zur Jause war, schien das gutzugehen.

Ich hatte dadurch freie Hand. Bei jeder passenden Gelegenheit konnte ich den Kapitänleutnant vorschieben, der mich auch immer, ohne daß er zuvor eine Ahnung hatte, gedeckt hat. Es gab keine unrechten oder unregelmäßigen Dinge. Aber ich war immer dann unterwegs, wenn Fliegeralarm zu erwarten war. Durch einen Freund im OKM in der Bendlerstraße habe ich das gleich am frühen Morgen erfahren, wenn die anderen daran überhaupt noch nicht dachten.

Nach Dienstschluß bin ich meist aus Berlin heraus nach Wannsee gefahren. So habe ich auch den 20. Juli 1944 in Wannsee erlebt. Manche Sommernacht bin ich wegen der Fliegerangriffe draußen in Wannsee geblieben.

Das Leben in Berlin war wie in allen Orten der Heimat den Kriegsverhältnissen untergeordnet. Das Dünnbier hat mich viele Pfunde verlieren lassen. Während ich noch in Lille immun gegen Alkohol gewesen bin, konnte ich in Berlin keinen vertragen, wenn es ihn gab. Und es gab immer ein Viertel Schnaps für jeden Lebensmittelkarteninhaber nach einem Fliegerangriff.

Frieder Schäfer und ich verbrachten vor allem die Herbstabende 1944 und die Winterabende ins Jahr 1945 im Berliner Kindl am Kurfürstendamm. Alles war natürlich schrecklich gegen die Bilder der herrlichen Erinnerung an die großen olympischen Tage von 1936.

Dazwischen die sich steigernden Angriffe auf Berlin. Die Berge der Toten und Trümmer wurden immer größer. Das Leben spielte sich nur noch hastend zwischen Angriffen ab. Die englischen Angriffswellen kamen nachts, und immer mehr kamen nun auch die amerikanischen Angriffswellen bei Tage.

Berlin war zur Frontstadt geworden. Im Hotel Europäischer Hof traf ich eines Abends Willi Rieker, der "Rischli" aus der TGO-Handballmannschaft, der auf seinen Zug aus dem Anhalter Bahnhof zur Front wartete. Nach dem Luftangriff sagte er: "Das ist schlimmer als draußen, nix wie fort."

Zu der Zeit gab es den neuen Film mit Marika Röck, "Frau meiner Träume". Frieder Schäfer und ich wollten uns den im Kino im Europahaus ansehen. Auf halbem Wege mußten wir wegen Alarm aus dem Kino. Am anderen Abend an der gleichen Stelle erneut Angriff. Zwei Tage später gingen wir zum gleichen Film ins Lichtspielhaus am Potsdamer Platz. Diesmal konnten wir uns den Film bis zu Ende ansehen.

Noch während des Ausgangs aus dem Kino gab es Fliegeralarm. Wir suchten Deckung im S-Bahnhof Potsdamer Platz. Als wir nach zwei Stunden herauskamen, war das Lichtspielhaus, in dem wir den Film zuvor gesehen hatten, nur noch ein rauchender Trümmerhaufen.

Bei der "Griesbreischlacht" im Berliner Kindl am Ku'damm, etwas anderes gab es nicht zum Abendessen, mußten wir für einen schlechten Aluminiumlöffel zwanzig Mark Pfand bezahlen. Die Gastwirtschaften und Restaurants waren zu dieser Selbsthilfe gezwungen, denn die ausgebombten Berliner konnten alles gebrauchen.

Frieder Schäfer wohnte im Hotel Holstein, gegenüber dem Europäischen Hof, neben dem Anhalter Bahnhof. Als wir eines Abends nach dem Fliegerangriff aus dem Bunker am Anhalter Bahnhof zurück ins Hotel wollten, waren das Hotel Holstein und der Europäische Hof nur noch Schuttberge.

Den schwersten Angriff erlebte ich in Berlin am 2. Februar 1945. Bei strahlendem Sonnenschein gab es um 11 Uhr Alarm. Ich war die Treppe in den U- und S-Bahnhof Potsdamer Platz noch nicht hinunter, da flogen den Fliehenden schon die Trümmer der Kassenhäuschen nach. Im untersten Bahnsteig saßen wir eng an eng unter die Wagen gedrängt, die Einschläge zählend, die bis in den tiefen Bahnsteig dröhnten.

Als wir um 14 Uhr den Untergrundbahnhof verlassen durften, war es rabenschwarze Nacht. Schwere Qualmwolken verdunkelten die immer noch scheinende Sonne, die wir erst wieder sahen, als wir viele Kilometer gewandert waren. 1600 viermotorige Bomber der Amerikaner hatten die ganze Innenstadt zerstört. Das Schloß, den Dom, am Potsdamer Platz das schöne "Haus Vaterland", in dem ich schon 1929 so begeisterte Stunden erlebte, das Shell-Haus, alles brannte lichterloh. Die Straßen waren verschüttet von Trümmern. Das Hotel Fürstenberg an der Ecke neben dem U-Bahn-Eingang war restlos zerstört.

Von diesem Angriff hat sich Berlin nicht mehr erholt. Es gab in der Innenstadt keinen Telefonanschluß mehr. Das Haus meiner Dienststelle am Karlsbad war noch vorhanden, aber ohne Türen und ohne Fenster. Diese waren alle weggeblasen. Es hat Tage gedauert, bis wir wieder behelfsmäßig arbeiten konnten. Mein Kapitänleutnant Naumann hatte sich in Urlaub begeben. Ich habe ihn nie mehr gesehen.

Inzwischen waren Amerikaner, Engländer und Franzosen schon bis zum Rhein vorgedrungen, die Russen standen bei Riga und hatten Breslau eingenommen. In Berlin wurde begonnen, Barrikaden zu bauen und Panzergräben auszuheben. Mit vier hochgestellten Verwaltungsoffizieren im Oberstrang wurde ich zu einer Alarmeinheit zusammengestellt. Wir bekamen Panzerfaust und automatisches Gewehr und einen Verteidigungsplatz in der Bendlerstraße Ecke Tiergartenstraße zugeteilt. Es war fürchterlich. Die Herren im Oberstrang konnten überhaupt nicht schießen.

Mein Major von Passavant hatte ein Herz. Er hatte mich, der ich für Kapitänleutnant Naumann morgens bei ihm den Rapport machte, immer erst am Schluß gebeten, die Türe geschlossen, und gesagt: "So, nun wolle mer erst emal Frankforterisch babbele."

Ich hatte bei ihm einen Stein im Brett, weil ich der einzige im Haus aus seiner Heimat war. Er hatte mich auch gegen den "Heldenklau" geschützt, wie man den General Unruh nannte, dessen Aufgabe es war, die Etappe für die Front durchzukämmen. Nun waren wir in Berlin selber Front, und ich sagte zu Major von Passavant: "Sehr schön, daß Sie mich hier festgehalten haben, aber jetzt gehe ich mit Verwaltungsoffizieren, die mit keinem Gewehr umgehen können, vor die Hunde."

Da hat der Major etwas gemacht, was er zu dieser Zeit nicht mehr verantworten konnte, er schrieb mir einen Marschbefehl nach Verona in Italien, obwohl weder er noch ich wußten, wie ich dorthin kommen sollte. Es hätte ihn den Kopf gekostet, wenn ich oder er erwischt worden wären.

1945 noch nach Verona

Am 16. April nach Verona, lautete der Marschbefehl. Meine Erkundungen ergaben, daß ich am 16. April nicht mehr aus Berlin kommen würde. Dresden war grausam vernichtet worden, Berlin war mit Flüchtlingen überfüllt, die meisten Fernzüge fuhren nicht mehr.

Kurz entschlossen rüstete ich zur "Ausreise" am 14. April. Mit Sack und Pack und allen Waffen, Seesack, volle Ausrüstung mit Gewehr, Gasmaske, Brotbeutel, Patronentaschen, Stahlhelm, usw. fand ich einen Platz im D-Zug nach München. Nachdem ich eine Stunde gestanden hatte, weit über die Abfahrtszeit, kam durch die Lautsprecher "Zug fährt nicht mehr". Hinüber mit allem Gepäck zum Gleis 2, dort stand ein Militärurlauberzug nach Prag. Wieder eingezwängt mit allem Gepäck. Eine halbe Stunde später der Lautsprecher "Zug fährt nicht mehr".

Und das alles in der Panik eines mit Tausenden Menschen gefüllten, erheblich zerstörten Bahnhofs. Da stand auf Gleis 1 noch ein Personenzug unter Dampf. Fahrtrichtung Dresden. Ich glaubte nicht, daß der noch fährt. Alles stürmte dorthin, ich natürlich auch. Es war ein Personenzug, in dessen Wagen kein Platz mehr war. Alles überfüllt. Die Leute standen auf den Trittbrettern, saßen auf den Dächern , auf dem Tender, ja auf der Lokomotive.

Was sollte ich machen? Verzweiflung packte mich.

Da stand ich vor dem Packwagen und sah eigentlich zum ersten Mal das Hundecoupe. Da ich nur noch 140 Pfund wog, konnte ich mich da hineinzwängen. Den Seesack stellte ich von hinten in den Packwagen, was einer Gepäckaufgabe gleichkam. Alles andere konnte ich im Hundecoupe‚ verstauen, in das ich mich rückwärts hineinzwängte. Ein artistisches Kunststück, das gelang. Mit welchen Hoffnungen?

Feldgendarmerie versuchte, die Leute wenigstens von der Lokomotive und vom Tender, von den Wagendächern zu holen. Alles vergebens. Ängstlich hielt ich die kleine Tür des Hundecoupes zu. Da geschah etwas, was ich bis heute nicht vergessen, vor allem nicht begreifen kann.

Daß es sowas gibt!?

Es klopfte an die kleine Tür. Ich hielt sie fest zu. Es klopfte wieder. Wer kann das sein? Was soll das in dem Durcheinander, in dieser allgemeinen Panik? Schließlich wollte ich ja nicht mit den Feldjägern zu tun haben. Aber das Klopfen hörte nicht auf. Da rief eine Stimme "Hein"!

Ich glaubte, ich hörte nicht recht. Das war doch die Stimme der Frau Tumernichte, die ich schon drei Wochen nicht mehr gesehen hatte!? Ich öffnete die Tür: tatsächlich.
Da stand Frau Tumernichte mit einer kleinen Schachtel, drückte sie mir in die Hand und wünschte mir viel Glück. Bevor ich noch maßlos erstaunt fragen, mich bedanken konnte, war sie weg.

Wie hat diese Frau, die nicht wußte, daß ich Berlin verlasse, die in dem Tumult der Tausende, selbst wenn sie gewußt hätte, daß ich abreise, mich in diesem Versteck gefunden? Dieses Rätsel konnte ich bis heute nicht lösen.

In der gebrauchten Pralinenschachtel waren Schokolade, Plätzchen, Zigaretten. Unglaublich!

Der Zug fuhr tatsächlich aus dem Bahnhof. Wie eine Erlösung empfand ich diese Minute, die wirklich die letzte war, aus Berlin herauszukommen.

Unterwegs, inzwischen war es Nacht geworden, hielt der Zug auf offener Strecke. In kurzer Entfernung bombardierten die Engländer Potsdam. Die Angst, der Zug könnte entdeckt werden, war groß, das brennende Potsdam ein schauriges Bild. Endlich fuhr der Zug weiter in die Nacht, Richtung Dresden. Die Menschenmassen immer noch auf den Trittbrettern, auf den Dächern der Waggons.

Gegen Morgen erreichten wir Dresden-Neustadt. Alle mußten aussteigen. Der Zug fuhr nicht weiter. Weiter aber fuhr ein anderer Zug in Richtung Prag, der auf dem Nebengleis stand, in den aber nicht hineinzukommen war. Alles wie vorher überfüllt.

Dieser Zug hatte aber drei Plattformwagen mit Flakartillerie anhängen. Auf einem dieser Flakwagen fand ich Platz und fuhr unangefochten mit bis nach Prag.

Zum ersten Mal in Prag

In der goldenen Stadt! Vom Gold war nichts zu sehen. Verstörte Menschen, aber keine Trümmer. Auf kurzem Wege erreichte ich einen Zug, der nach Pilsen fuhr. Der Bahnhof Pilsen mit Truppentransporten überfüllt. Zuerst hatte ich natürlich die Gelegenheit benutzt, ein echtes Pilsner vom Faß zu trinken. Danach dampften wir mit zwei Lokomotiven den Berg hinauf. Kaum waren wir oben, gab's Fliegeralarm. Wir dampften davon, als in den überfüllten Bahnhof die Bomben fielen. Hatte ich ein Glück!

Mit diesem Zug kam ich nach Bayrisch-Eisenstein. Endstation. Es war schon Nacht und nichts los. Kein Zug. Keine weitere Verbindung. Auf den Gedanken, überhaupt nicht mehr nach Verona, sondern Richtung Offenbach zu reisen, konnte ich nicht kommen, obwohl in Offenbach schon die Amerikaner waren. Desertation bedeutete den augenblicklichen Tod. Deshalb durfte ich auch nicht in Richtung Landshut, um nicht in die Hände sogenannter Alarmeinheiten zu fallen.

Am Morgen fand ich einen Sattelschlepper, nur Zugmaschine, der mich mitnahm bis kurz vor Mühldorf. Mutterseelenallein lag ich auf der Straße im Graben und schaute, wie die Engländer den drei Kilometer entfernt liegenden großen Verschiebebahnhof zertrümmerten.

Auch dieser Schrecken ging vorüber. Am Morgen wußte ich nicht weiter. Ein Lastwagen und wieder ein anderer halfen mir bis ins Inntal. Ich durfte nicht nach München und auch nicht nach Salzburg, um nicht von Alarmeinheiten für Fronteinsatz aufgefangen zu werden. Denn daß mein Marschbefehl bei der Gesamtlage nichts mehr wert war, wußte ich auch.

Verschnaufpause im Inntal

Am 19. April 1945 landete ich in Kirchbichl im Inntal zwischen Kufstein und Wörgl. Hier war keine Gefahr, und ich meldete mich auf der Bürgermeisterei. Ich erhielt ein wunderschönes Zimmer bei der Lehrerfamilie Colona. Freudig wurde ich aufgenommen. Ich konnte mich endlich richtig waschen, und es gab gut zu essen. Den 20. April, des "Führers" letzter Geburtstag, wurde in Kirchbichl noch gefeiert.

Auf der Bürgermeisterei hatte ich mir einen Ruhetag bescheinigen lassen, ohne an der "Geburtstagsfeier" teilzunehmen. Anderen Tags mußte ich das Angebot annehmen, mit einem Militärlastwagen des Luftwaffenkommandos Wörgl über Innsbruck zum Brenner zu fahren. Dort wechselte ich den Wagen. Mit einem Lastwagen der Kommandantur Verona war ich auf das richtige Fahrzeug geraten, ausgeliefert gewissermaßen, harrend der Dinge, die da kommen sollten.

Wir fuhren durch die Nacht. Ich wußte nicht, wo. Die Kameraden waren nett. Mitten in der Nacht kehrten sie irgendwo ein, wo sie offensichtlich bekannt waren. Bei familiärem Anschluß saßen wir sieben Soldaten und die Wirtsfamilie mit in der Runde bei gutem Rotwein und dem Maisgericht Polenta, das ich zum ersten Mal aß, und wo ich ausgiebig meinen Hunger stillen konnte.

Verona - schön, doch ohne Hoffnung

Um 1 Uhr waren wir in Verona. Schreckliches Bild: Helles Mondlicht über einer Trümmerstätte. Vom angeblich schönen Verona nichts zu sehen. Wir stiegen in einen Tiefbunker. Dort mußte ich, nichts Gutes ahnend, mein Soldbuch abgeben und erhielt dafür eine Decke. Auf einem Feldbett bin ich schnell eingeschlafen.

Meine Ahnung bestätigte sich am Anderen Morgen. Kein Soldbuch zurück, einrücken in eine Alarmeinheit! War ich verzweifelt. Da bin ich nun acht Tage mit List und Tücke durch die Gegend gekurvt, um den Alarmeinheiten zu entgehen, um dann am Ziel doch in die Falle zu geraten.

Aber ich hatte ja einen Marschbefehl nach Verona. Das war mein Glück. Ich konnte anhand dessen den kommandierenden Infanteriehauptmann überzeugen, daß ich ja sowieso nach Verona kommandiert sei. Daraufhin erhielt ich mein Soldbuch zurück.

Das Gewehr über die Schulter hängend bin ich erst einmal durch die Gegend auf Erkundung gegangen. Erst einmal sehen, wie sieht Verona aus, wo ist die Dienststelle, zu der ich kommandiert bin.

Ein schöner Frühlingsmorgen. Die Kirschbäume blühten, die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel.

Flucht ins Ungewisse

Die Dienststelle war die "Propaganda-Abteilung Italien". In einem Privathaus bekam ich ein schönes Zimmer. Mein Gepäck wurde auf der Sammelstelle geholt, Essen gab es gut im Soldatenheim. Die Stimmung war trotz des Zusammenbruchs der Front in der Po-Ebene nicht schlecht. Sofort wußte ich, daß hier die Chance des rechtzeitigen Abbruchs der Zelte war.

Bei der guten Stunde, in der ich allein auf der Höhe über dem schönen Verona saß und gedankenvoll die Gegend betrachtete, fand ich die Gedanken zurück nach Offenbach. Was machen Aenne und Gisela mit der Oma? Für sie war der Krieg schon 14 Tage aus. Wie haben sie alles überstanden? Sind sie wieder in Offenbach? Steht die Taunusstraße 1 noch? Meine Lieben wußten ja nicht, wo ich war. Sie wußten nicht, daß ich in Italien gelandet war. Sicher waren sie voller Sorgen, mußten sie mich doch in Berlin vermuten. Schreiben über die Fronten hätte ja keinen Sinn gehabt.

Auf der neuen Dienststelle wußten sie nichts mit mir anzufangen. Die Herrschaften waren im Aufbruch. Chef war ein Oberstleutnant, der auch ein SA-Gruppenführer war, der nun versuchte, nicht in die Hände der nachrückenden Amerikaner zu fallen. Allein konnte er nicht das Kommando verlassen.

Das wäre Fahnenflucht gewesen. Er erreichte die Befehlsgenehmigung, den Propagandatrupp zurück nach Bozen zu verlegen.

Drei Tage war ich gerade in Verona, als der Befehl zum Aufbruch kam. Auf der Dienststelle, auf der ich keine Minute Dienst getan habe, konnte ich noch sehen, wie alles stehen- und liegengelassen wurde. Schreibmaschinen, Rechenmaschinen, viele Koffer mit kompletter LEICA-Ausrüstung, die gesamte Einrichtung.

Als Kutscher nach Bozen

Dieser Trupp hatte auch Reitpferde, die ebenfalls mit zurückgenommen werden sollten. Der Oberfeldwebel fragte mich, ob ich mit Pferden umgehen könnte. Da ich den Braten schon gerochen hatte, verneinte ich. Er aber sagte: "Na, Sie schaffen das." Es waren vier Pferde und ein Muli. Der Oberfeldwebel fuhr einspännig in einer Karette, einem Zweiradwagen, ein Obergefreiter einspännig mit einem kleinen Planwagen, und ich fuhr zweispännig mit dem angebundenen Muli.

Der Neuling mußte die Hauptlast tragen.

Einen kleinen Braunen hatte ich in einer Gabel vor einem kleinen leichten Planwägelchen, das mit gepresstem Heu beladen war, um die Pferde füttern zu können. Neben dem Braunen mit einem separaten Zugscheid, einen Schimmel, der an den Kopf des Braunen gebunden war, den ich aber nicht lenken konnte.

Der Trupp selbst fuhr mit Proviant und dem Gepäck auf zwei LKW. Es war 22 Uhr als wir drei Fahrzeuge aus Verona hinausfuhren. Der Oberfeldwebel, wissend, daß ich angeblich mit Pferden nicht umgehen konnte, riet mir sehr eindringlich, die Pferde nicht zu schlagen, sondern fürsorglich zu führen. Wie sollte so etwas gehen, bei einer völlig fremden Hand, einer fremden Stimme!

Es ging ganz gut, bis es plötzlich Fliegeralarm gab. Wir hatten den Ortsrand noch nicht erreicht, da schlugen schon die Bomben und die Granaten ein. Scheu blieben die Pferde plötzlich mitten auf der Straße in der Dunkelheit stehen. Sie waren wie angewurzelt, nachdem sie durch eine einschlagende Bombe erschreckt worden waren. Dieser Einschlag war immerhin mindestens vierhundert Meter weit weg.

Es half nichts. Ich konnte machen, was ich wollte. Ich führte die Pferde mit gutem Zureden am Zügel. Sie standen wie gemeißelt.

Sisyphusarbeit

Eine Stunde stand ich so mit ständigem Bemühen mitten im Fliegerangriff. Als der endlich vorbei war, kam der Oberfeldwebel mit der Karette zurück und schimpfte. Ich habe ihm entgegnet: "Ich habe ihnen ja gesagt, daß ich nichts von Pferden verstehe." Er selbst griff nun zu, um die Pferde zu bewegen. Das gelang auch. Nur nicht vorwärts. Die Tiere stießen zurück, dabei den kleinen Planwagen umwerfend, das gepreßte Heu auf der Straße. "Das hätte ich auch gekonnt", sagte ich.

Nachdem wir den Wagen wieder aufgerichtet hatten, begannen wir, das Heu aufzuladen. Ich stand auf dem Wagen, er reichte zu. Während das gepreßte Heu aufgeladen einen halben Meter hoch war, hatte ich nun schon mehr als die doppelte Höhe erreicht, und auf der Straße lag noch mehr als wir schon aufgeladen hatten. Das gepreßte Heu hatte sich in der Auflösung vervielfacht.

Endlich setzten sich die Pferde in Bewegung, und ich versuchte nun, sie durch ständigen gleichen Zuruf zunächst an meine Stimme mit gleichzeitiger Bewegung der Zügel zu gewöhnen.

Es ging alles gut bis kurz vor Garda. Als die Straße aufwärts ging, blieben sie wieder stehen. Wieder waren sie nicht zu bewegen. Sich absetzende Soldaten bat ich, mir zu helfen. Als die mich in voller Uniform sahen, weigerten sie sich. "Schmeiß den Scheißdreck fort", sagten sie.

Ich wußte schnell Rat. Aus einem Haselnußstrauch schnitt ich mit meinem Seitengewehr einen langen starken Stock, setzte mich auf den Bock und schlug auf die Pferde ein, mit dem gleichen Ruf und den gleichen Bewegungen, die ich in der Nacht versucht hatte, ihnen beizubringen. Wenn der eine anzog, hufte der andere zurück. Zogen endlich beide gleichzeitig, blieb der Muli hinten stehen und hielt das leichte Fahrzeug fest. Endlich zogen sie zu gleicher Zeit an, und der Wagen rollte. Und wie er rollte, mit meiner langen Gerte brauchte ich nur noch zu schwingen mit dem "Allez hopp", und das Gefährt ging flott den Weg.

Im Zigeunerlager

Kurz vor Garda, die Sonne war aufgegangen, kam mir, ich fuhr auf einer Nebenstraße, eine Gruppe von fünf Zigeunern entgegen. Was machen? Sie gestikulierten: du Kamerad, wir dir zeigen, radebrechte einer von ihnen. Was blieb mir übrig, ich war ihnen ausgeliefert.

Bald stellte sich heraus, daß sie vom Oberfeldwebel geschickt waren, der mit dem Obergefreiten schon lange in dem Zigeunerlager auf dem Fußballplatz am Gardasee angelangt war. Ich staunte. Es stellte sich heraus, daß der Oberfeldwebel hier kein Unbekannter war. Er hatte schon eine lange Zeit mit Ihnen Geschäfte gemacht. Wir blieben den Tag und eine Nacht in diesem Lager bei Polenta und Rotwein.

Am anderen Morgen war ich schon um drei Uhr allein zum nahen Gardasee gegangen, setzte mich auf einen Uferstein und sah dem beginnenden Sonnenaufgang entgegen. Einmalig. Unvergesslich.

Als ich zurückkam, hatten die Zigeunerinnen schon für ein schönes Frühstück mit Eiern und Speck gesorgt, doch wir sollten keinen Bissen essen. Auf der am Fußballplatz vorbeiziehenden Gardaseestraße rollten die deutschen Kolonnen dicht auf dicht. Von unseren Zigeunern war einer auf einen Lastwagen geklettert, um dort zu stehlen. Er wurde von einem deutschen Landser erschossen.

Die Zigeunerinnen, die den Vorfall beobachtet hatten, retteten unser Leben. Aufgeregt trieben sie uns "avanti - avanti", halfen, die Pferde anzuspannen, und als die Zigeuner schreiend über den Sportplatz zum Lager eilten, sausten wir zum Tor hinaus.

Zweihundert Meter weiter mündete die Straße in die Gardaseestraße. Ich in den Wagenknäuel. Ein "Sani" (Sanitätsfahrzeug) rammte mich, ich fiel, ohne Halt zu haben, sofort durch die Gabel auf die Erde und gleichzeitig der Braune mit seiner Hinterhand auf mich. Der Wagen wurde weitergeschoben, der Braune erhob sich und ich mich, wie von einem Magneten gezogen, ebenfalls, auf der Gabel den ersten Halt findend. Ich war in kurzer Zeit zweimal davongekommen.

Wenig später reichte es noch zu einem dritten Mal. Die vollgestopfte Straße wurde natürlich von Jagdflugzeugen angegriffen, die mit Bordwaffen in die Kolonnen schossen. Wir fuhren weiter, anders ging es nicht in dem dichten Knäuel von Fahrzeugen und Menschen. Ich empfand es halb so schlimm wie in den Kellern von Berlin. Neben mir gab es vereinzelt Verwundete und Tote.

So kam ich auf die Straße, die am Gardasee viele Kommandos der Feldjäger bei der Jagd nach Deserteuren beschäftigt sah, bis nach Malcesine.

Der Schlaf der Gerechten

Mit dem Wagen fuhr ich in einen Olivenhain, band die Pferde los, holte Wasser und konnte dabei Heu gegen Hafer tauschen. Nachdem ich getränkt und gefüttert hatte, band ich die Pferde an den Wagen, damit sie sich noch Heu holen konnten, und legte mich in voller Uniform mit meinen Waffen unter den Wagen auf die Erde zum Schlafen.

Als ich wach wurde, hatte ich zehn Stunden geschlafen. Den Pferden und mir war nichts geschehen, obwohl die Gegend voll von Partisanen war. In Brentonico holte ich mir eine Feldflasche Rotwein. Auf der Straße hatten sich junge Italiener um meinen Muli gestellt, den sie stehlen wollten. Als ich dazwischenfuhr, wollten sie ihn abkaufen. Das Geschäft habe ich nicht gemacht, obwohl man mir hätte glauben müssen, daß er gestohlen worden wäre.

In Riva gab es Aufregung durch Fliegerangriff. Die Pferde scheuten in eine Toreinfahrt, und nur die Tatsache, daß das Wägelchen leicht war, schützte mich, an der Wand zerquetscht zu werden.
Mit Anbruch der Nacht fuhr ich weiter auf der östlichen Straße nach Trient, obwohl man mir abgeraten hatte, weil es dort noch viele Partisanen geben sollte.

Durch die Nacht nach Trient

Es müssen viele Engel gewesen sein, die mich auf dieser Fahrt durch die Nacht geleiteten. O hne jeglichen Halt, frei saß ich auf dem Wagen, und bin eingeschlafen. Vier Stunden schlief ich so auf dem fahrenden Wagen. Die Pferde gingen in stockdunkler Nacht. Die Straße war ohne Verkehr. Bis vor Trient, als diese Nebenstraße in die Gardastraße einmündete, in den Strom der zurückflutenden Kolonnen. Auf der ansteigenden Straße blieben die Pferde, die stundenlang gegangen waren, stehen.

Ich schlief immer noch, bis rauhe Landserhände mich vom Wagen holten und mich schimpfend wachrüttelten. Ich war sofort hellwach. Nur mein laut polterndes Aufbegehren hat mich vor üblem Ausgang geschützt.

Am Ortseingang von Trient standen der Oberfeldwebel und der Obergefreite. Sie glaubten mich verloren, weil ich über zwölf Stunden später kam. Sie wußten nicht, daß ich in Malcesine zehn Stunden unter dem Wagen geruht hatte. An der Straße hatten sie bei einem Bauern Quartier gemacht.

Die Pferde kamen endlich in einem Stall zur Ruhe, wir lagen daneben im Stroh.

Zu Gast in Tirol

Die 60 km nach Bozen fuhren wir flott. Die Pferde hörten auf mein Wort. Sie waren wohl an mich gewöhnt. Auf halbem Wege konnte ich die Pferde und den Wagen bei einem Südtiroler Bauern einstellen. Oben auf dem Berg lag Blumenau. Dort hinauf bin ich dann am Sonntagnachmittag gestiegen. In einem freundlichen Gasthaus wurde ich gut aufgenommen. Man gab mir zu essen und zu trinken, was ich wollte, ohne Bezahlung, beschenkte mich noch mit Brot, Butter und zehn Eiern. Durch den Rotwein waren die Füße etwas rund geworden, und den steilen Berg hinunter bin ich mehr auf dem Hosenboden gerutscht als gegangen, die Eier immer hochhaltend, damit sie nicht kaputtgingen.

In der Scheuer, in der ich abgeschirrt hatte, übernachtete ich im Stroh bei den Pferden. Am anderen Tag ging es dann weiter nach Bozen. Das Südtiroler Land, das ich erstmals erlebte, hatte überall freundliche Menschen. Vor Bozen erwartete mich der Oberfeldwebel, der von einem großen Bauernhof auf einer Anhöhe an der Straße diese leicht übersehen konnte.

Die Pferde kamen in den Stall, wo schon die beiden anderen standen. Am Bauerntisch gab es ein kräftiges Abendbrot mit dem obligatorischen Rotwein. Es war wie im Frieden.

Auflösung in Bozen

Anderen Tags in die Stadt zum Kommando, das schon seit Tagen mit seinen Lastwagen angekommen war. Dabei stellte ich fest, daß der Oberfeldwebel die vier Pferde und den Muli mit den Wagen an den Bauern verscherbelt hatte. Ich ärgerte mich, daß ich so pflichttreu gewesen war und den Muli nicht verkauft hatte. Kein Hahn hätte danach gekräht.

In Bozen kam ich dazu, wie das Kommando Fleischvorräte an die Bevölkerung verschenkte. Alle Bestände an Lebensmitteln und Rauchwaren wurden unter die Kameraden verteilt. Danach sollte es mit einem Lastwagen, mit Knäckebrot und Olivenöl als Proviant über den Brenner nach Deutschland gehen.

Da erhielt ich den Befehl, mit Sack und Pack und allen Waffen mit dem Linienbus zurück nach Trient zu fahren, um dort als Kriegsberichter eingesetzt zu werden.

Natürlich mußte ich dem Befehl folgen, ärgerte mich aber darüber, daß sie ausgerechnet mich als Neuzugang dahin schicken und die Kriegsberichterkameraden mit nach Deutschland nehmen wollten.

Ich wußte, in zwei Stunden fährt der Wagen. Bis zur Abfahrt war ich natürlich zur Stelle mit der Meldung, daß kein Linienbus mehr nach Trient fahren würde.

So bin ich denn mit der Truppe, insgesamt waren wir noch zwölf Mann, der Chef längst über alle Berge, in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai über den Brenner.

Entwaffnung auf dem Brenner

Auf dem Brenner hatten die Rot-Weiß-Roten, die österreicher, das Kommando. Sie entwaffneten uns. Aus Ärger darüber warf ich das Schloß meines neuen Gewehrs und die Patronen in den Bach am Brenner.

Im Schneesturm fuhren wir im Morgengrauen des 2. Mai 1945 in Innsbruck ein. Kein Mensch zu sehen. Still und verlassen alle Straßen. Von der Westseite rückten die Amerikaner heran. Wir fuhren ins Inntal und quartierten uns in einer Scheuer in Schwaz ein.

Im Heu schlief ich einen tiefen Schlaf. Am Morgen mußten wir türmen. Die Amerikaner rückten ins Inntal. Wir fuhren mit unserem Lastwagen nach Wörgl und von dort nach Hopfgarten mit dem Reiseziel Kitzbühel. Vor Hopfgarten fuhr uns der Schreck in die Glieder. Eine Militärstreife stoppte und verhaftete uns. Wir hatten keine Waffen mehr und teilweise auch keine Rangabzeichen. Wir wurden auf einen Platz hinter der Kirche geleitet. Eine SA-Führerschule umstellte uns mit drohendem Gewehr.

Zum Schluß noch eine Dummheit

Unser Hauptfeldwebel versuchte Verständigung. Das gelang überzeugend. Ergebnis: Wir sollten Gewehre bekommen und an der Straße nach Wörgl gegen die Amerikaner kämpfen. Dabei gingen mir d ie Nerven durch. Ausgerechnet jetzt, wo schon alles vorbei und völlig nutzlos war, noch einmal das Leben riskieren?

Ich nahm meinen schweren Seesack vom Wagen und desertierte, ohne eigentlich zu wissen, was ich tat. Direkt in die Arme zweier, die Straße heraufkommender Offiziere. Ich kehrt und zurück. Einer der Bewacher sagte: "Laß' das, ich muß auf dich schießen." Ich sagte: "Schau doch einmal woanders hin. " Er tat es, und ich türmte erneut die Straße hinunter. Zwei Mädchen riefen: "Herr Soldat, Herr Soldat, bleiben Sie hier, die haben erst gestern viele aufgehängt."

Auf der Flucht

Zu überlegen gab es nichts. Ich war auf der Flucht und türmte weiter, erreichte den Wald und stieg steil den Berg hoch, bis ich meinem rasenden Herzen eine Pause gewähren mußte. Auf halber Höhe traf ich einen, der auch zu uns gehörte, dessen Flucht ich aber nicht bemerkt hatte. Unser Koch. Ein Berliner. Der sagte: "Es kommt niemand nach. Laß' mich erst mal deinen Seesack heben." Sprachlos stellte er ab. Nach einer Verschnaufpause meinte er: "Das ist ja nicht möglich, wie du mit diesem Gewicht gerannt und hier aufgestiegen bist!"

Beide gingen wir auf die bewaldete Höhe. Auf der Kuppe, 900 Meter hoch über Hopfgarten stand ein Wirtshaus. Unschlüssig, hineinzugehen, schnüffelten wir erst die Umgegend ab. Dann gingen wir und wurden auch freundlich empfangen. Wir bekamen auch zu essen, eine gute Bohnensuppe, für die ich meine beiden weißen Päckchen opfern mußte, weil wir kein Geld hatten (Die weißen Päckchen, das sind die weißen Arbeitsanzüge der Matrosen aus schwerem Leinen).

Bei der Unterhaltung mit der Wirtin sagte diese: "Ja, hier kommen viele Soldaten her. Von der Militärschule in Hopfgarten, die kommen jeden Abend." So schnell hatten wir noch keine Mahlzeit beendet. In Sekunden waren wir verschwunden, in den Wald. Was machen? Wir sahen noch von der Höhe wie gegenüber auf dem Berg ein Tigerpanzer in Stellung gebracht wurde, der auch einen Schuß abgab auf die im Tal anrückenden Amerikaner. Einen zweiten Schuß konnte der Panzer nicht mehr lösen. Ein Volltreffer hatte ihn außer Gefecht gesetzt.

Anzunehmen war, daß die Amerikaner inzwischen in Hopfgarten waren. Wir gingen weiter in den Wald. Ich trennte die Messingknöpfe von meinem Kolani und nähte schwarze Zivilknöpfe an, die ich in meinem Nähzeug hatte. Danach ging ich, buchstäblich ein Zivilist, auf Erkundung.

Erstmals Kaiserschmarrn

Auf der Höhe mit Blick nach Wildschönau stand einsam ein Bergbauernhaus. Vorsichtig schlich ich ums Haus, da rief der Bauer schon: "Kommen Sie nur, Landser." Nachdem ich das festgestellt hatte, holte ich meinen Kumpel, und wir zogen ein ins Heu.

Natürlich hatten wir Hunger. Ich hatte Rauchwaren, so daß wir etwas anbieten konnte. Sehr sauber war es in diesem Bergbauernhaus nicht. Drei Kinder zwischen sechs und vierzehn, der Bauer und seine Frau waren da. Das ganze Anwesen war ein wackliges, vom Holzwurm zerfressenes Holzhaus, in dem Wohnung, Ställe und Scheune unter einem Dach waren. Ein aussichtsreicher Galerieumgang zum Tal hin war bei dem schönen Wetter ein Genuß.

Drinnen sah es anders aus. Unter den Bänken im Wohnzimmer waren auch die Hühner zuhause. Dennoch, wir hatten ein Gefühl der Geborgenheit. Die Bauersfrau machte für uns Kaiserschmarrn. Nie zuvor hatte ich das gegessen. In einer großen Pfanne kamen sie auf den Tisch, und jeder gabelte sich ein Stück heraus. Dabei liefen die Läuse über die Tischplatte. Fürchterlich, doch wir waren in den letzten Wochen ja einiges gewohnt. Dem Jungen schenkte ich meine Matrosenmütze, die er unbedingt haben wollte, dafür bekamen wir anderen Tages noch ein kräftiges Mittagessen.

Zuerst stieg ich am Vormittag hinunter nach Wildschönau, um die Lage zu erkunden. Vor dem Rathaus hing eine weiße Fahne, so daß alle Bedenken schwanden. Drinnen saß ein Luftwaffenleutnant, der "Entlassungspapiere" ausstellte. Ohne Unterlagen, allein auf meine Vorstellungen füllte der mir ein Entlassungspapier aus.

Nach Hause

Zurückgekehrt, rüsteten wir zum Aufbruch. Mein Kumpel hatte andere Gedanken, ich wollte nach Hause. Zu Fuß, wenn es nicht anders ging. Der Krieg ist aus! Was machen sie zuhause? Leben sie noch? Sie wissen ja seit Wochen nicht mehr, wo ich bin.

Auf meinem Weg ins Tal kam ich genau an die Stelle, wo ich vierzehn Tage zuvor Rast auf dem Wege nach Süden gemacht hatte, nach Kirchbischl. Ich suchte die Familie Colona auf, geriet dabei mitten in einen Haufen Amerikaner, die im Hause Colona eine Dienststelle eingerichtet hatten. Die lieben Nachbarn hatten natürlich den Amis den "Nazi" verraten.

Unglücklich waren die alten Colonas. Dennoch konnte ich Frau Colona meine nagelneue graue Uniform samt Mantel zur Aufbewahrung geben. Ich würde sie mir schon einmal abholen. Später dachte ich, ob es nicht falsch war, die gastfreundlichen Menschen mit einer deutschen Soldatenuniform zu belasten ?

Mein Ziel war klar: Zu Fuß nach Hause. Eisenbahnen gingen nicht. Die Strecken waren zerstört. In blauer Uniform, ohne Rangabzeichen, mit Zivilknöpfen, den Seesack auf dem Buckel, den ich inzwischen von Unnötigem erleichtert hatte, tippelte ich die Straße nach Wörgl, Richtung Kufstein.

Kurz hinter Wörgl wurde ich von einem amerikanischen Posten gefragt, ob ich eine Pistole hätte. Als ich verneinte, ließ er mich weiterziehen. Ich dachte schon, das geht ja wunderbar, bis eine Straßensperre der Amerikaner alles festhielt, was sich bewegte. Und es kamen viele Soldaten, einzeln und in kleinen Gruppen auf der Straße. Wir alle wurden auf Lastwagen verladen und auf eine Wiese vor Kufstein gebracht. Vielleicht vierhundert waren schon dort, als ich ankam. Zehntausend waren es innerhalb von drei Tagen.

In freier "Wildbahn" waren wir allen Wettern ausgesetzt. Ich hatte noch eine kleine Zeltplan. Den Koch aus Berlin traf ich auch wieder, und wir schlüpften unter das kleine Zeltdach. Wasser gab es zum Trinken, Waschgelegenheit war keine. Notdurft wurde über einem Radel verrichtet über einer großen Grube, die zu diesem Zweck ausgehoben wurde.

Zu essen gab es täglich eine kleine Büchse mit sogenanntem Frühstücksinhalt. Wir schliefen in den Kleidern auf dem blanken Boden, der zu dieser Zeit naßkalt war. Das Lager war von Panzern und Posten mit Maschinenpistolen umstellt. Alle Gefangenen wurden durchsucht, besonders nach SS-Tätowierungen unter dem Arm, jedoch kaum bei einem etwas gefunden.

Mein schönes Kufstein

Karfreitag wurden Ingenieure gesucht. Sofort meldete ich mich. Zwanzig Mann kamen zusammen, von über zehntausend. Mit einem amerikanischen Militärlastwagen wurden wir nach Kufstein gebracht. Dort hatten die Amerikaner um die Burg einen Pionierpark errichtet. Alles neues Gerät: Panzer, Schützenpanzer, Haubitzen, Feldgeschütz, Granatwerfer, kleine und große Personenwagen. Aufgabe war, die Geräte zu reinigen.

Sinnlose Beschäftigung an neuen Geräten. Erfreut waren wir, als zum gemeinsamen Mittagessen in Hockstellung auf der Erde immerhin ein großer Block Corned Beef und ein kleines Fäßchen Bier serviert wurde, mit Brot usw. Herrlich. Dabei hatte einer unter uns die Idee, dafür zu sorgen, daß wir diesen Genuß nicht verloren. Wir beschlossen, besonders an den Schützenpanzern und den kleinen Personenwagen Teile zu demontieren und sorgfältig abzulegen, damit wir sie auch wieder montieren konnten.

Ich mußte einen Motor eines Jeeps, eines kleinen Geländewagens säubern. Zu säubern gab es nichts. Der Wagen war funkelnagelneu. Ich versuchte, Benzin in eine Gasmaskenbüchse zu schütten, um mit etwas Öl gemischt, den Motor zu polieren. Ein aufsichtsführender Ami kam mit einem 20-Liter-Kanister Benzin, schob meine Gasmaskenbüchse zur Seite und sagte "nix gut", schüttete die 20 Liter Benzin völlig unnötig über den Motor. Ich stand sprachlos, und mir war sofort klar, daß wir unter solchen Verhältnissen keine Chance hatten.

Unser "Modell" funktionierte. Natürlich gab es auch unter den zwanzig "Ingenieuren" Renommierknaben, die brühwarm im Lager erzählten, wie gut es uns gegangen war. Jeder hatte noch sechs Frühstücksbüchsen zusätzlich mitgebracht, wo sie im Lager mit einer täglich auskommen mußten.

Prompt wurden wir von der deutschen Lagerverwaltung am anderen Morgen zurückgeschickt. Neue 20 Mann sollten in den Genuß kommen, nach Kufstein zu fahren.
Die Neuen kamen innerhalb von einer halben Stunde wieder zurück. Die "Ingenieure" vom Vortag wurden befohlen, denn die Neuen wußten ja nichts mit den demontierten Teilen anzufangen.

So erlebte ich über die Pfingstfeiertage 1945 eine wenigstens nahrhafte Zeit. Immer hatte ich natürlich auch für meinen Kumpel einige Büchsen mitgebracht.

Lager bei Rosenheim

Regenwetter verwandelte das Lager und die Wiese vor Kufstein in einem Tag in ein Schlammbad. Durchnäßt standen wir schutzlos herum. Zwei Tage später wurden wir mit Güterwagen auf der Bahnstrecke in den Raum Rosenheim verlegt. Meine Gruppe kam zu einem Gutshof Unterspann. Die Scheune war mit Ungarn belegt, denen die Läuse aus den Halsbinden krabbelten. Ich ging nicht in die Scheune, wegen der Läuse im Stroh. Auch vor der Scheuer hatte ich, zum ersten Mal in fünf Soldatenjahren, Läuse.

Wir waren in sogenannte Kompanien eingeteilt auf verschiedene Höfe verlegt worden. In einem Gutshof an der Straße nach Rosenheim hatte sich ein sogenannter Stab etabliert, der Schreibkräfte suchte. Ich hatte zuerst keine Lust, doch als ich inspizierte, was sich da tat, habe ich mich gemeldet und wurde auch angenommen.

Zuerst eine tüchtige Entlausung. Danach zog ich ins neue Quartier. Lauter Offiziere der Luftwaffe und des Heeres waren damit beauftragt, die Entlassung der Soldaten zu organisieren.

Wieder hatte ich Glück. Ich schlief mit drei im Mannschaftsrang im Heu über der Zahlmeisterstube, die ein gutes Lager bester Lebensmittel beherbergte. Wir hatten Heu in Kissen gefüllt und lagen damit prächtig im Heu. Der Stab hatte eine Sanikolonne gekapert, die voll mit Lebensmitteln war.

Es gab bestens zu essen, sogar mit Nachspeise. Wir fanden Kakao und klauten dem Bauer die Milch, weil er sie uns nicht freiwillig geben wollte, und kochten einen herrlichen Kakao. Zucker hatten wir auch.

Das ging so acht Tage. Die ersten Transporte hatten wir bereits verabschiedet, als wir, die drei Schreiber im Mannschaftsrang, unsere Abreise organisierten. Nicht, ohne am Abend zuvor unsere Säcke mit Brot und verschiedenen Büchsen mit Wurst, Fleisch, Zucker, Fett, usw. zu füllen. Der Zahlmeister wird am nächsten Tag nach unserer Abreise gestaunt haben, wie die Bestände gelichtet waren.

Je 50 Mann wurden wir in einen Güterwagen verladen. Jeder hatte nur ein Viertel Kommißbrot und ein kleines Stück Butter als Proviant. Natürlich habe ich meinen Seesack aufgemacht und Brot und Fett und Wurst verteilt. Dennoch brachte ich am Ende eine gute Portion noch nach Hause.

Das dauerte aber noch drei Tage. Erstaunlich, daß die Bahnstrecke über München und Nürnberg nach Hanau schon befahren werden konnte. Es ging nur langsam vorwärts. Truppentransporte hatten Vorzug. So kam ich am 13. Juni mit dem Transport auf der Fahrt nach Gießen, wo wir entlassen werden sollten, nach Hanau. Inzwischen brodelte die Gerüchteküche. Wir sollten Franzosen ausgeliefert werden, ging die Parole.

In den zerstörten Bahnhof Hanau waren wir kaum eingefahren, wußte ich, daß ich nicht mit nach Gießen fahren würde. Ich buckelte meinen Seesack und türmte über die Gleise auf die Straße nach Offenbach.

Wiedersehen mit der Heimat

Das Wetter war schön und der bekannte Weg unbeschwerlich. Unbehelligt kam ich über die Mühlheimer Straße nach Offenbach in die Taunusstraße. Das Haus stand noch, und meine Lieben waren alle zuhause. Die Freude war groß. Endlich hatten wir uns wieder. Aenne und Gisela mit der Mutter waren erst vier Tage vorher zurückgekommen. Die Wohnung war durchgeblasen. Kein Glas mehr in den Fensterrahmen, den Radioapparat hatte die "Einquartierung" auch gestohlen. Den hatte ich aber bald wieder, nachdem ich ausfindig gemacht hatte, wer da gewohnt hatte.

Im Keller war nichts beschädigt oder gestohlen, so daß wir uns wieder einrichten konnten. Der Wiederaufbau begann. Eltern und Geschwister waren noch am Leben.

Aber wie ging es weiter?


 


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