Krieg und Kino
 
 
Medien- und Militärästhetik bei Paul Virilio
 
Das philosophische und ästhetische Denken bei Paul Virilio ist stark geprägt von seiner persönlichen Biographie - hier explizit seiner Kindheit und Jugend an der Atlantikküste und seiner späteren Entwicklung zum Architekten.
 
Virilio wuchs in Nantes an der französischen Atlantikküste auf - in einer Landschaft also, welche stark geprägt ist von den Hinterlassenschaften der Deutschen Wehrmacht in den Dünen - den Bunkern des Atlantikwalls, wo die deutschen Besatzer Frankreichs die Invasion der Alliierten erwarteten.
 
1991 veröffentlichte Virilio den Band „Bunker-Archäologie", mit kurzen stichpunktartigen Essays zu diesen Befestigungswerken und der damit verbundenen Kriegs- und Wahrnehmungsveränderung sowie umfangreichem selbstfotografiertem Bildmaterial der Bunkerwerke.
Durch die Besatzung lebte Virilio zwar am Meer, sah dieses jedoch zum ersten Mal erst im Sommer 1945. Später hat Virilio diese Landschaft lange erwandert und dokumentiert. Die Bunker des Atlantikwalls können alleine stehen für eines von Virilios Hauptmotiven und Ideen: der nicht mehr existierenden Verortung des Menschen in seiner Welt. Die Luftwaffen des Zweiten Weltkriegs sorgen dafür, daß die Ängste der Soldaten in den Bunkern sich nicht mehr von denen der Bevölkerung in den Städten unterscheiden:
„Dies ist gleichbedeutend mit dem Verschwinden des Schlachtfelds und der Kämpfe an der Peripherie; die europäische Festung ist dreidimensional, die Bunker an den Stränden sind die Ergänzung zu den Luftschutzräumen in den Städten.." (aus: "Bunkerarchäologie", S. 40, München, 1992 ).
Angesichts der fortgeschrittenen Waffentechnologie sind Bunkerbauwerke schon kaum mehr sinnvoll, angesichts der Neutronenbombe werden sie vollends absurd.
 
Die Kriegstechnologie verlagert sich im Zwanzigsten Jahrhundert zusehends - weg von den Gefechten im „realen Raum" zwischen Kriegsmaschinen, hin zu dem entscheidenden Vorteil im Kampf für denjenigen, der als erster den Gegner im „elektronischen Raum" orten kann.
Mittel für diese Entwicklung - und somit Gegenstand der Forschung und Investition-scorpus - ist die Medientechnologie. Das ist zwar weder eine besonders aufregende noch eine neue Erkenntnis, aber Virilio geht noch darüber hinaus: die Kriegstechnologie ist für ihn nur eine Metapher für eine Entwicklung, die in der Gesellschaft und der Wahrnehmung der Menschen widerspiegelt.
Anleihen bei Benjamin nehmend, besieht sich Virilio ein Medium, wie das Kino und seine Wirkung auf die menschliche Wahrnehmung. Die „Routinisierung von Schocks", die Benjamin konstatierte, sieht Virilio in einer mehr und mehr abnehmenden Fähigkeit die immer schnelleren und aggressiveren Bildabfolgen in Kino und später Fernsehen in ihrer manipulativen Gewalt erkennen und analysieren zu können: die Welt wird zu schnell für die Perzeptionsfähigkeit der Menschen.
Virilio bringt das Beispiel eines Propagandaregisseurs aus dem Ersten Weltkrieg an, der völlig frustiert bei den englischen Soldaten im Graben lag und sah, daß er nichts sah: vor allem nicht den Feind, der blieb immer unsichtbar. Auch die Landschaft gab es nicht mehr - einmal mehr eine verlorene Verortung des Menschen.
Virilio verfolgt in seinem Denken zwei Hauptstränge, was Medien und Macht und Krieg im Zwanzigsten Jahrhundert anbelangt:
Zum Einen die Wandlung der Militärtechnik vom direkten Kampf gegeneinander hin zum Sehen und Bekämpfen ohne selbst gesehen zu werden. Virilios sieht in der Luftaufklärung einen entscheidenden Wendepunkt: diese diente nicht nur der Lenkung und „Effizienzkontrolle" der eigenen Kampfeinsätze, sondern wurde - wenn schon nicht zu verhindern - kreativ eigensetzt. Virilio verweist auf die Geisterstädte und Flottenbewegungen, mit denen die Briten die Deutsche Luftaufklärung hinsichtlich der Örtlichkeit der Invasion erfolgreich täuschten. In der Gegenwart war im Golfkrieg zuletzt zu beobachten, wie die Amerikaner zunächst vor ihren Angriffen mit einem „elektronischen Orkan" die Ortung der irakischen Abwehr lahmlegten.
Zum Andern verzeichnet das Zwanzigste Jahrhundert eine Zeit von immer stärkerer Nutzung von Propaganda zu Machtzwecken. Hitler, so Virilio war ein „Magier-Diktator", der kaum mehr regierte, sondern immer mehr inszenierte. Der Reichsparteitag der Na-tionalsozialisten in Nürnberg 1938 war mindestens zur Hälfte nur für die Verfilmung durch Leni Riefenstahl inszeniert. Jedes deutsche Regiment hatte einen Kameramann dabei, in der Heimat lief die Schnulzen- und Komödienmaschinerie der UFA auf Hochtouren.
Virilio geht sogar soweit zu sagen, daß die Alliierten den Krieg gegen Hit-ler wirklich erst zu gewinnen begannen, als sie die Inszenierung ihrerseits aufnahmen und mit immer größeren Bomberverbänden, beladen mit immer mehr Vernichtungspotential und den die Nachthimmel erleuchtenden „Tannenbäumen" die Nazis an Inszenierung überboten.

Nazifilme, Lichterdome aus Flakscheinwerfern, sowjetische Propagandatechniken, atemberaubend schnell geschnittene Bildfolgen, Dechiffrierungstechnologien, Radar, Anekdoten - Virilios Technik funktioniert stark assoziativ, Gedanken kommen auf und kehren wieder, werden nicht weiter verfolgt, manchmal bis zur Geschwätzigkeit ausgeführt oder bisweilen bis zur Langeweile wiederholt. Viele Punkte reißt Virilio nur an und geht oft nicht weiter, obwohl gerade das spannend wäre. So stellte Virilio auch Überlegungen an, bezüglich der Gefährdung der Demokratien durch das „Echtzeitproblem".
Politische Prozesse und Gewaltenteilung sind Vorgänge, die ausgehandelt werden müssen - wie aber soll diese Zeit dafür vorhanden sein, wenn diese sich uns immer mehr entzieht. Virilio bezeichnet das Ende der Politik mit dem Begriff des Transpolitischen: „ Mit dem Transpolitischen beginnt das Politische zu verschwinden und seine letzte Lebensspähre sich zu verflüchtigen: die Dauer. Demokratie und Diskussion, die Grundlagen des Politischen brauchen Zeit. Die Dauer gehört zum Wesen des Menschen." („Der Reine Krieg", Berlin 1984, S. 32)


 


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