Der französische Kriminalfilm
der Sechziger Jahre
 
 
Jean-Pierre Melville und Claude Chabrol
 
Neben den Werken der "Nouvelle Vague", also vor allem den Filmen von Francois Truffaut, Godard und den ersten Filmen von Louis Malle, sind die Werke vor allem von Jean-Pierre Melville leider nicht annähernd so bekannt.
 
Auch das Werk Claude Chabrol, der zunächst als Mitbegründer der Nouvelle vague gilt, bald jedoch einen anderen Weg einschlagen sollte, soll hier kritisch beleuchtet werden . Beide loten auf Ihre Art die Untiefen der französischen Unterwelt aus: war der eine eher in seinen Sujets in den Gangsterwelten zuhause (Jean-Pierre Melville), so war der andere ein zynischer Beobachter der französischen Bourgeosie (Claude Chabrol).
 
 Jean-Pierre Melville
 
Jean-Pierre Melville, geboren am 20.Oktober 1917 als Jean-Pierre Grumbach, Sohn elsässischer Eltern in Paris, war schon in jungen Jahren ein begeisterter Kinoenthusiast. Seine Eltern schenkten ihm einen Filmprojektor, so daß er sich regelmäßig Stummfilme ansehen konnte. Melville war sein Synoynm als Künstler in Verehrung des Werkes "Pierre or the ambiguities" des "Moby Dick" Schöpfers Hermann Melville.
 
Werk und Biographie
 
Melville gilt als der erste "Auteur complet", ein Regisseur, der seine Drehbücher schrieb, Regie führte und ansonsten, zumindest in seinen frühen Filmen nur noch einen Kameramann benötigte. Aber auch bei seinen letzten Filmen noch, erledigte Melville selbst so entscheidende filmtechnische Arbeiten wie Schnitt und Ton in seinem Studio in der Rue Jenner selbst, später dann auch in Boulogne-Billancourt, nachdem das Studio im Pariser Osten, nahe der Place d'Italie 1967 in Flammen aufging.

Melvilles Werk ist eher klein an Masse: in fast dreißig Jahren als Regisseur, schuf er lediglich 13 Filme.

Nach einem Kurzfilm, drehte er 1949 seinen ersten Langfilm "Das Schweigen des Meeres" nach der Novelle "Le silence de la mer" von Vercors. Da Melville nicht den von der Filmgewerkschaft geforderten Mindeststab an Mitarbeitern beschäftigte, sondern nur mit seinem Kameramann, dem bald sehr gefragten Henri Decae, arbeitete, wurde ihm kein Filmmaterial zur Verfügung gestellt. Melville musste den Film daher auf Abfallschnipseln und teilweise abgelaufenem Filmspuren drehen. Zusätzlich erschwert wurden die Dreharbeiten dadurch, dass die Novelle von Vercors eine Geschichte aus der Zeit der deutschen Besatzung erzählte und Schauspieler in deutschen Uniformen 1949 alles andere als gern gesehen waren.
Jean-Pierre Melville
Später folgte eine Zusammenarbeit mit Jean Cocteau, Melville spielte zunächst selbst in der Verfilmung eines Cocteau Stückes mit und drehte 1949 in Zusammenarbeit mit Jean Cocteau, der den Part des Erzählers in diesem Film übernahm, "Die schrecklichen Kinder".

Es folgten in den fünfziger Jahren als wichtige Filme vor allem "Bob le Flambeur" mit Roger Duchesne und "Leon Morin, Pretre" mit Emmanuelle Riva und Jean Paul Belmondo. Manche Filmkritiker halten bereits "Bob le Flambeur" (Drei Uhr nachts, 1959) für Melvilles ersten Gangsterfilm: Melville jedoch, und das erscheint auch mir zutreffender, nennt den Film eine Milieustudie. Tatsächlich ist der Film eine Reminiszenz an den Montmartre der 50er Jahre und zugleich als filmisches Motiv - der gescheiterte todsichere Coup - ein Klassiker, welches bei vielen anderen Filmen, von "Oceans Eleven" über Verneuils "Lautlos wie die Nacht" bis hin zu Kubricks "Die Rechnung ging nicht auf" wiederkehrt. Ein Spieler, Bob, plant einen Überfall auf ein Casino, hat eine grandiose Glücksträhne in der Nacht der Tat, vergisst darüber seine Spießgesellen und führt damit eine Katastrophe herbei.

Mit "Leon Morin, Pretre" wiederum, führte Melville einmal mehr seine Vielseitigkeit ins Feld. Ein Dorfpriester in der Besatzungszeit und eine junge Französin lernen sich kennen. Die Atheistin und der Theologe empfinden zunächst eine Hassliebe zueinander, die sich im Laufe des Films zur Liebe wandelt und aufgrund der Unausweichlichkeit und Folgerichtigkeit der Ereignisse dazu führt, dass ihre Wege sich für immer trennen. Jean-Paul Belmondo beweist unmittelbar nach Jean-Luc Godards "Außer Atem" (1959) und Vittorio de Sicas "..und dennoch leben sie" (1960) seine schauspielerische Vielseitigkeit und sein ungewöhnliches Können. Als filmische Partnerin brilliert die faszinierende Emmanuelle Riva, die der von ihrer Arbeit in Alain Resnais "Hiroshima mon amour" begeisterte Melville sofort engagierte. Die Faszination des Films lebt von der Dualität der Protagonisten und dem großartigen Drehbuch, welches zwar enorm viele Themen, wie Theologie, Philosophie und Sexualität behandelt, sich jedoch daran niemals überhebt und gleichsam sicher die Klippen der Trivialität umschifft.

Die Rezeption dieses Meilensteins des Melvilleschen Werkes in Deutschland, litt vor allem an seinem entsetzlichen Titel "Eva und der Priester" und auch eine zur Zensur ausartende Schere beim Schnitt taten diesem Film alles andere als gut - und leider war das bei Melville kein Einzelfall.

Als einziger Nicht-Gangsterfilm in seinem Spätwerk, genießt "L' armee des ombres" (Armee im Schatten, 1969) einen besonderen Rang in seinem Werk und zählt ebenso zu jenen Werken, die Melvilles Weltruf begründeten. "Armee im Schatten" ist ein Resistance-Film mit Lino Ventura, Simone Signoret und Paul Meurisse in den Hauptrollen und beendet die Resistance Trilogie, welche mit den Filmen "Das Schweigen des Meeres" und "Leon Morin, Pretre" begann.

Melville arbeitete unter selbigem Decknamen als Mitglied der Resistance im besetzten Frankreich gegen die Deutschen. Daher sind die hier geschilderten Erfahrungen Bilder und Sentenzen eines Zeitzeugen, die in der bekannten Melvilleschen Detailliertheit und Präzision zu einem großen beklemmend klaren Zeitbild in Zelluloid oszillieren. Denn nicht nur die spannende Handlung des bis in die Nebenrollen großartig besetzten Films (übrigens durchaus ein Merkmal Melvilles), sondern auch seine Ehrlichkeit machen diesen Film so beeindruckend. So zeigt er sowohl einen deutschen Wachmann im Gefängnis, der die Inhaftierten trotz Verbots rauchen lässt - er zeigt auch eine Resistancezelle, die einen Verräter auf grausame Weise liquidiert.

"Armee im Schatten" ist in jeder Hinsicht ein Spätwerk Melvilles, in düsteren Farben gehalten, mit wenig Licht gedreht, sparsame Dialoge und eindrucksvolle Tonsequenzen, perfekte Besetzung und jene Melville so eigene eiskalte Menschlichkeit, die Menschen in Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Bestimmung zusammen kommen lässt und sie sich dabei kaum merklich einander begegnen und erkennen zu lassen.

Jean-Pierre Melville war neben dem "Auteur complet", als welcher er Vorbild für Godard, Rivette, Chabrol und Rohmer war, auch ein Lehrmeister für einige später berühmte Regisseure und Filmschaffende. So arbeitete Volker Schlöndorff einige Jahre als Regieassistent für Melville, u.a. bei "Leon Morin, Pretre" und "Le doulos", auch Schlöndorffs Klassenkamerad an der Filmhochschule, Bertrand Tavernier arbeitete in jungen Jahren für Melville. Auch der später bekannte Thrillerregisseur Yves Boisset ("Ein Bulle sieht rot", "Das Attentat", "Der Richter, den sie Sheriff nannten") lernte die Regiearbeit bei Melville, genauso wie die Kinder des famosen Jacques Tati, Sophie und Pierre Tatischeff, die bei Melville Filmschnitt und Regieassistenz lernten.

Jean-Pierre Melville starb am 02.August 1973 in einem japanischen Restaurant in Paris an einem Hirnschlag. Melvilles Gangsterdramen gehören zu den absoluten Meisterwerken, sowohl in der Geschichte des französischen Gangsterfilms als auch des internationalen Gangsterfilms. Sie stehen in der Tradition des amerikanischen "Film noir" der 40er Jahre, beeinflußt von Regisseuren wie Howard Hawks, Robert Wise und William Wyler. Schauspieler wie die jungen Lino Ventura, Belmondo, Delon und Michel Piccoli spielten bei ihm ebenso mit, wie die "alte Recken" Andre Bourvil, Paul Meurisse, Yves Montand oder Charles Vanel.

Die Gangsterfilme
 
In den sechziger und siebziger Jahren folgten dann seine sechs großen Gangsterfilme, die in der Zeit zwischen 1962 und 1972 entstanden: sie gehören zu den Filmen, mit denen sich alle Filme diesen Genres messen müssen: Le doulos (Der Teufel mit der weißen Weste; 1962), L´aine des Ferchaux (Die Millionen eines Gehetzten, 1962), Le deuxieme souffle (Der zweite Atem, 1966), Le Samourai (Der eiskalte Engel, 1967), Le cercle rouge (Vier im roten Kreis, 1970) und Un flic (Der Chef, 1972).
 
Mit Le doulos aus dem Jahr 1962, steht am Beginn dieser Reihe ein äußerst düsterer und undurchsichtiger Klassiker in Schwarzweiß, in welchem eine Lüge in einem Höllentempo die Nächste jagt. Jean-Paul Belmondo spielt den vorgeblichen Doppelspitzel Silien, der sowohl für Ganoven als auch für die Polizei zu arbeiten scheint. Der Juwelenräuber Maurice (Serge Reggiani) wird nach einem Raub im Pariser Vorort Neuilly von einem Unbekannten gerettet, später aber doch verhaftet. Maurice glaubt, daß Silien ihn verraten habe. Dieser jedoch schafft es durch geschickte Inszenierung eines Doppelmordes, Maurice zu entlasten, und seine Haftentlassung zu forcieren. Maurice aber hat inzwischen vom Gefängnis aus einen Killer auf Silien angesetzt, der ihn ermorden soll. Als er endlich die Wahrheit erfährt, versucht er in letzter Minute diesen zu stoppen... das Drama nimmt seinen Lauf.
 
In Le doulos werden schon viele später immer wieder auftauchende Motive von Mevilles Filmen vorgezeichnet. Die Gangster treffen sich oft in verfallenen Häusern an Bahnstrecken, die starren Kamerafahrten mit Blick in die fahrenden Autos, seitlich oder frontal, finster schimmern die bekannten Symbole der französischen Metropole im fernen Dunst in die Banlieue. Vor allem die Szene von Siliens Verhör durch Kommissar Clain, machte Melville berühmt: in einer einzigartigen filmtechnischen Leistung, gelingt es, das Verhör ohne einen einzigen Schnitt zu drehen, dabei wechseln die Protagonisten mehrmals ihren Platz um 360°, und die unvermeidlichen Glasscheiben des Büros mit ihren Spiegeleffekten erschweren den Dreh zusätzlich.
 
Nach dem Roadmovie und Kriminalfilm L'aine des Ferchaux (Die Millionen eines Gehetzten, 1962) mit Charles Vanel und Jean-Paul Belmondo, drehte Melville 1966 Le deuxieme souffle (Der zweite Atem). Die Rolle des Gangsters Gustave Minda, genannt Gu, wurde eine der Besten des in dieser Zeit berühmt werdenden Lino Ventura.

Gu bricht mit mehreren Gangstern aus dem Gefängnis aus und seine Flucht gelingt. Seine Freundin wird von zwei Gangstern bedroht, als Gu sie besucht, er beseitigt die Beiden. Doch seine spezielle Vorliebe beim Beseitigen von Gegnern bringt Kommissar Blot (Paul Meurisse) auf seine Spur. Gu muß noch einmal alles versuchen, mit seinem "zweiten Atem" braucht er schnell einen Coup, um seine finanzielle Situation zu verbessern.

Durch den Vermittler Orloff bekommt er Kontakt zu einer Gangsterbande in Marseille, die einen Platintransport in den Bergen der Provence überfallen will. Der mit Waffengewalt und Todesopfern durchgeführte Raub gelingt, doch Gu wird bald darauf verhaftet. Blots Leute aber geben sich nicht als Polizisten zu erkennen, so dass Gu glaubt, es mit Rivalen seines Kumpanen Paul zu tun zu haben. Als er Pauls Namen erwähnt hat, geben sich Blot und seine Leute zu erkennen. Gu weiss, dass er fortan als Verräter gilt und versucht nach seiner Flucht in einem letzten verzweifelten Akt seine Integrität wieder herzustellen.

In einem unglaublich spannenden Showdown töten Gu und die Gangsterbande sich gegenseitig, der verwundete Gu wirft sich auf der Treppe den anrückenden Leuten Blots entgegen, die ihn mit zwei Kugeln entgültig tödlich treffen und stirbt in Blots Armen. Dieser findet Gus Notizbuch, in welchem Blots Kollege Fardiano unter Gewaltandrohung und kurz bevor Gu ihn erschießt, ein Geständnis geschrieben hatte, dass Gu hereingelegt worden war.

Blot geht aus dem Haus und lässt das Notizbuch vor den Füßen eines Journalisten in der vor dem Haus zusammen gelaufenen Menschenmenge fallen und beteuert so lange, dass dieser wohl etwas verloren habe, bis der Journalist das Büchlein schließlich an sich nimmt - Gus Ehre ist wiederhergestellt und Blot hat sein Schicksal mit dem Gus verknüpft.

Der Filmwissenschaftler Hans Gerhold bezeichnete "Der zweite Atem" als Melvilles "La regle du jeu". Ein treffender Vergleich, denn wie Jean Renoir in "Die Spielregel" sein philosophisches Universum absteckte, so gelang Melville in keinem anderen Film die Darstellung des Prinzips der Ambiguität (Mehrdeutigkeit) besser: die Polizei weiss um die Methoden und Gedanken der Gangster und umgekehrt. Beide begegnen einander mit Respekt und ahnen die nächsten Züge ihrer Kontrahenten. Der berühmte Jose Giovanni, der die Drehbücher zu so famosen Filmen wie "Die Abenteurer", "Der Kommissar und sein Lockvogel" oder "Verdammt zum Schafott" schrieb, und der auch die Romanvorlage zu diesem Film verfasst hatte, war Melville nach dessen Adaption seines Werkes zeitlebens gram, so sehr sah er seine Vorlage verändert.

Leider wurde auch dieser Film in Deutschland bis zur Unkenntlichkeit geschnitten, so wurde die erste deutsche Fassung des Films gegenüber dem 150 Minuten langen Original um unglaubliche 35 Minuten gekürzt. Die vom ZDF vor Jahren restaurierte vollständige Fassung ist allerdings auch leider so gut wie nie zu sehen, einzig eine ungekürzte französische Fassung ohne Untertitel aus Frankreich ist von diesem Film realistischerweise zu bekommen.
 
Le samourai (Der eiskalte Engel, 1967)
 
1967 schuf Melville mit Le Samourai (Der eiskalte Engel) einen Film, der wohl zu den bedeutendsten und berühmtesten Kriminalfilmen der gesamten Filmgeschichte gezählt werden kann.
 
"Non Jeff, c`est pas tu seul", sang der berühmte Chansonier Jacques Brel etwa zur gleichen Zeit, ob er wohl dabei an Jeff Costello dachte ? Im Alter von dreißig Jahren spielte Alain Delon den Profikiller Jeff Costello. Costello erschießt einen Nachtklubbesitzer, wird aber kurz nach der Tat von einer schwarzen Pianistin im Flur gesehen. Als Profi hat er sich natürlich gleich ein doppeltes Alibi gestrickt, und doch hat der Kommissar ihn bald als Hauptverdächtigen im Visier. Die Pianistin erkennt ihn bei der Gegenüberstellung zwar, bestreitet jedoch, daß Costello der Täter sei. Die Polizei muß ihn freilassen, doch sie sieht ihn weiterhin als Hauptverdächtigen an, und beschattet ihn.
 
Später, als Costello seine Prämie kassieren will, versucht der Mittelsmann des Gangstersyndikats, das ihn beauftragte, ihn zu ermorden. Dies misslingt und Costello bekommt aber bald einen neuen Auftrag. Nun jedoch wird es schwierig, denn er wird von der Polizei überwacht. In einer wilden Jagd durch die Pariser Metro, gelingt es ihm zu entkommen. Er sucht den Boß des Syndikats auf und erschießt ihn. Dann will er seinen Auftrag ausführen. Er geht in den Nachtklub, stellt sich vor die Pianistin und zieht seine Waffe. Da strecken ihn die Kugeln der Polizei nieder. Als die Beamten Costello die Waffe aus der Hand nehmen, sehen sie, daß der Revolver leer war: der Samourai hatte Harakiri begangen.
 
In seiner famosen Vollendung und einer in ihrer Perfektion nur noch auf sich selbst verweisenden Ästhetik ist "Der eiskalte Engel" Kino in Reinkultur. Diese Bilder sind faszinierend und schaurig gleichermaßen, der ganze Film ist überwiegend in Braun-, und Grautönen gehalten. Costello ist ein Bildnis des vereinsamten Menschen des späten 20.Jahrhunderts, mit der gleichen Logik und Konsequenz mit der Costello mordete, inszeniert er schließlich seinen eigenen Tod.
 
Alain Delon zeigt in diesem Film eine schauspielerische Leistung, die er kaum einmal wieder erreichen konnte. Die Bezeichnung "Engel" im deutschen Filmtitel trifft gut die Unschuld, Reinheit und Klarheit, mit der Costello seine Taten begeht, ähnlich einem Erzengel. Die spärliche Musik des kongenialen und ebenso wie Jean-Pierre Melville viel zu früh verstorbenen Francois de Roubaix, erinnert mit ihrem Hauptthema und dessen Variationen an eine Bachsche Fuge, wechselt und driftet bisweilen in französische Musettemotive, und unterstreicht die klaren und finsteren Bilder dieses Meisterwerks.

Die nächsten Jahre waren zunächst geprägt vom Feuer in Melvilles Studio Jenner, welches 1967 abbrannte. Daher konnte der sich selbst als Opozentriker bezeichnende Melville auch 1968 keinen Film drehen, und 1969 folgte "Armee im Schatten". Nach Le Samourai und L'armee des ombres schien eine Steigerung in Melvilles Werk kaum mehr vorstellbar, doch mit Le cercle rouge (Vier im roten Kreis) kehrte er 1970 mit einem neuen Achttausender in seinem Werk in die Kinos zurück.
 
Le cercle rouge (Vier im roten Kreis, 1970)
 
Le cercle rouge wurde ein beispielloser Erfolg, und einer der legendärsten Gangsterfilme aller Zeiten, bis heute geliebt und bewundert von Regisseuren wie Quentin Tarantino, Jim Jarmusch und John Woo.

Die Gangster Corey (Alain Delon) und Vogel (Gian-Maria Volonte) begegnen einander, als Vogel sich auf der Flucht vor der Polizei in Coreys Kofferraum versteckt. Corey war am Morgen in Marseille nach fünf Jahren aus dem Knast entlassen worden, und Vogel dem Pariser Kommissar Mattheï bei der Überführung im Nachtzug in die Hauptstadt nahe Chalons-sur Saone im Morgengrauen entkommen. Vogel revanchiert sich bei Corey für dessen Hilfe, indem er zwei ihn verfolgende Killer tötet.

In Paris angekommen, erzählt ihm Corey von einem geplanten Coup auf einen Diamantenhändler an der Place Vendome. Vogel schlägt als dritten Mann den Ex-Bullen Jansen (Yves Montand) vor, der als Scharfschütze die Alarmanlage ausschalten soll. Der Coup gelingt, aber Kommissar Mattheï muß auf Gedeih und Verderb Vogel finden, und schreckt dafür auch vor skrupelloser Erpressung des Nachtclubbesitzers Santi (Francois Perier) nicht zurück. Santi verrät die drei Gangster schließlich an Mattheï, der sie als Hehler getarnt in die Falle lockt, in der alle drei in einer nächtlichen Schießerei den Tod finden.

"Vier im roten Kreis" war wie alle Spätwerke Melvilles (mit Ausnahme von "Armee im Schatten") ein Drehbuch von Melville selbst. Wie kein anderer Film von Jean-Pierre Melville ist dies ein Gangsterfilm, der vor allem durch seine perfekte Inszenierung und seine beklemmende Kälte beeindruckt, und doch auch wieder zutiefst menschlich ist. Selten war Melville dem klassischen "film noir" der vierziger Jahre näher als mit diesem Werk und auch der von ihm selbst gezogene Vergleich mit einem Western ist nicht schlecht. Die Coolness der großartigen Filmmusik von Eric Demarsan, stilistisch Jazz der siebziger Jahre im Stil des Modern Jazz Quartett, unterstreicht die Stimmung des Films und verstärkt seine Bilder.

Nie wird es in diesem Film richtig hell oder gar sonnig, die Wohnungen, Flure und Schauplätze sind von klaustrophobischer Finsternis, in denen, wie Gerhold zurecht anmerkt "Gregor Samsas Verwandlung hätte stattfinden können". Die Einführung des Scharfschützen Jansen, der inzwischen ein massives Alkoholproblem hat, gerät unter Melvilles Regie zu einem schaurigen Hieronymus Bosch Gemälde eines delirium tremens. Melville selbst beschrieb es als seine Vorstellung eines Faulknerschen Alkoholexzesses und es wird einmal mehr zu einem beeindruckenden Beweis der brillanten Schauspielkunst Yves Montands.

Überhaupt ist die Einsamkeit und Determiniertheit, die über Le cercle rouge schwebt, eine der vorherrschendsten Stimmungen dieses Films. Mattheï der abends nach Hause in seine dunkle Wohnung nahe des Pantheons kommt, erwartet von seinen Katzen (nebenbei ein filmisches Denkmal für Melvilles Katzen Griffaulait, Fiorello und Aufréne) oder Corey und Vogel auf einem einsamen herbstlichen Feld im Burgund, unter Krähengeschrei und mit zwei Gauloises Freundschaft schließend. Jansen, der mit seiner Teilnahme am Coup "die Bewohner des Wandschranks" und damit sein Alkoholproblem besiegt und folgerichtig auf seinen Anteil verzichtet.

Und schließlich der Coup selbst, in Melvillescher Ausführlichkeit, gezeigt vom Gießen der Kugeln, bis hin zur Flucht über die nächtliche Place Vendome - ein halbstündiges Kleinod im Meisterwerk - eine halbe Stunde Film ohne Dialog nur mit Geräuschen und spärlichster Musik. Fast schon augenzwinkernd der Kommentar von Matthei, der sich am Morgen die Überwachungsbänder in den Räumen des Juweliers betrachtet und schließlich murmelt: "Also gesprächig sind die Beiden nicht..".
Filmplakat zu 'Vier im roten Kreis'
Ein Film mit umfangreicher Symbolik von der roten Ampel zu Beginn, bis hin zur roten Rose des Verrats, die Corey als Erkennungsmerkmal für Matthei in Santis Nachtklub von einem Barmädchen empfängt. Ein spiralförmiger Film, sich beständig dem Zentrum des roten Kreises nähernd, gemäß dem wiederkehrenden Leitmotiv, welches Melville den Inspecteur General des Services, den obersten Polizeipräsidenten sagen lässt: "Alle Menschen, Monsieur Matthei" - die Determiniertheit des Menschen. Die Menschen kommen unschuldig auf die Welt, aber sie bleiben es nicht - gemäß Sartre: die Hölle, das sind die anderen.

Die Schönheit der Bilder von "Vier im roten Kreis", sind in ihrer Schönheit nur noch mit Szenen aus Filmen wie Stanley Kubricks Meisterwerk "Barry Lyndon" vergleichbar. Mit Recht kann man sagen, dass Melville mit diesem Film auf dem absoluten Höhepunkt seiner Kunst angekommen war.

Es dauerte zwei Jahre bis Melville mit einem neuen Werk in die Kinos zurückkehrte, es wurde sein letzter Film. Mit Un flic (Der Chef, 1972) baute er seine Filme mit Alain Delon zur Trilogie aus.

 
Un flic (Der Chef, 1972)
 
Kommissar Eduoard Coleman (Alain Delon) spürt einer Gangsterbande nach, die in Paris und landesweit ihr Unwesen treibt. Er verdächtigt seinen Freund Simon (Richard Crenna), einen Nachtclubbesitzer, mit dessen Freundin Cathy (Catherine Deneuve) er ein Verhältnis hat. Geschickt spinnt er ein immer undurchlässigeres Netz um Simon, Bandenmitglieder werden verhaftet oder entziehen sich der Verhaftung durch Selbstmord, bis Simon und Coleman sich schließlich kurz vor Simons Flucht zum letzten Mal begegnen. Coleman schießt Simon vor Cathys Augen nieder, steigt nahezu ungerührt in seinen Wagen und nimmt kurz darauf einen neuen Einsatz entgegen.

"Der Chef" floppte sowohl in den Kinos, als auch im Ansehen von Melville selbst. Doch zu Unrecht, denn der Film erreicht zwar nicht mehr die Intensität, Stimmung und Schönheit seiner drei Vorgänger, doch es ist noch immer ein Melville, und somit ein überdurchschnittlich guter Film. Hervorzuheben dabei ist insbesondere die Eingangssequenz, als Simons Bande eine Bank an der Atlantikküste überfällt. Es ist einmal mehr eine typische Melville Szenerie, eine dialogfreie Sequenz, die auf beeindruckende Weise mit dem Ton arbeitet. Das Tosen eines Orkans auf dem Atlantik mischt sich mit dem Heulen der Alarmsirene, während Simons Bande die Beute und einen Schwerverletzten im Auto verstaut und die Verfolger in Schach hält.

Letztlich ein würdiger Abschluß im Werk eines der größten Regisseure des französischen Kinos im 20. Jahrhundert und mit Sicherheit eines des größten Ästheten und Individualisten in der Geschichte des Films.
 
 Claude Chabrol
 
An den Filmen von Claude Chabrol scheiden sich bisweilen die Geister: entweder sind seine Filme famose Meisterwerke oder grauenvoll schlechte Streifen. Leider nimmt es Chabrol nicht immer so genau mit den Feinheiten seiner Arbeiten: zwar ist "Eine Frauensache" ein interessanter Film mit einer großartig spielenden Isabelle Huppert, aber wenn zwischendurch eine Spielzeugeisenbahn durch eine Modellbahnlandschaft fährt, weil es wahrscheinlich zu kompliziert war, eine Dampflok anderweitig zu organisieren, dann gibt es immer eine Anzahl von Betrachtern, die "not amused" sind. Nur folgerichtig warf Rainer Werner Faßbinder Chabrol seine "formale Schlampigkeit" und den mangelhaften Einsatz von Licht und Farbe vor.

Nachdem der Filmkritiker Claude Chabrol im Jahr 1958 nach einer Erbschaft seinen ersten Spielfilm Le beau serge (Die Enttäuschten) drehte, galt der Film als einer der ersten Filme der Nouvelle vague. In den folgenden Jahren drehte der Sohn eines Apothekers mehr oder weniger gelungene und stilsichere Filme, mal Thriller, mal Spionageparodien und mal historische Kriminaldramen.

Bei Claude Chabrol kann man von zwei klassischen Phasen sprechen: Perioden, in denen sich Chabrol mit einer Reihe von Filmen seine filmhistorische Bedeutung erarbeitete - da ist einerseits die Zeit Ende der Sechziger Jahre und in den ersten Jahren der Siebziger des letzten Jahrhunderts mit den Filmen: Les Biches (Zwei Freundinnen, 1967), La femme infidele (Die untreue Frau, 1968), Que la bete meure (Das Biest muß sterben, 1969), Le boucher (Der Schlachter, 1969), Just avant la nuit (Vor Einbruch der Nacht, 1970/71), La decade prodigeuse (Der zehnte Tag, 1971) und Les Noces Rouge (Blutige Hochzeit, 1972).

Seine zweite klassische Periode begann 1982 mit der phantastischen Simenon Verfilmung "Die Fantome des Hutmachers" mit Michel Serrault und Charles Aznavour. Es folgten die Filme um den kauzigen Inspektor Lavardin mit Jean Poiret, von denen allerdings nur die ersten beiden Filme von Bedeutung sind, nämlich "Hühnchen in Essig" (1984) und "Inspektor Lavardin und die Gerechtigkeit" (1986), danach der Thriller "Masken" (1986), das Psychodrama "Der Schrei der Eule" nach einer Patricia Highsmith Vorlage (1987) und "Eine Frauensache" (1988).

Viele andere Filme von Chabrol sind interessant und teilweise spannend, wie z.B. "Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen" (1977), seine einzige Zusammenarbeit mit Romy Schneider oder einige der Arbeiten mit der famosen Sandrine Bonnaire, wie "Biester" (1995) und "Die Farbe der Lüge" (1998).

Schön wäre es, wenn Chabrol uns für die Zukunft mit seinen Literaturverfilmungen verschonen würde. In den siebziger Jahren verfilmte er eine unerträgliche Version von Goethes Wahlverwandschaften - an sich schon kein Werk mit überdurchschnittlich hohem Unterhaltungswert - das Ganze noch garniert mit Leuten wie Stephane Audran, die mit ihren Rollen völlig überfordert sind.
Aber auch in den neunziger Jahren verbrach Chabrol nochmals eine Literaturverfilmung: Flauberts 'Madame Bovary' hatte wahrlich etwas besseres verdient. Isabelle Huppert beweist, daß sie eigentlich keine besondere Schauspielerin ist, Jean-Francois Balmer übertrifft an Langeweile noch den Buchlangweiler Charles Bovary. Es bleibt fraglich, warum ein Regisseur, der große Psychodramen verfilmen kann, bei Literaturvorlagen in schöner Regelmäßigkeit so jämmerlich scheitert.
 
Bürgertum und Provinz
 
Als zynischer Beobachter des französischen Bürgertums ist Chabrol auch ein Dokumentar der Provinz, nahezu keine seiner wirklich bedeutenden Arbeiten spielt in der Metropole Paris. Ein Umstand, der auch im cineastisch zentralistisch strukturierten Frankreich durchaus bemerkenswert ist.

Aber die Provinz eignet sich als Brennglas für Intrigen, Bigotterie und Heuchlerei eben doch ein wenig besser als die Anonymität der Großstadt. Chabrol interessiert sich nicht für sinistre Gangster und resignierte Bullen - seine Protagonisten sind die enttäuschten und gelangweilten Damen der "besseren Gesellschaft" und ihre korrupten Ehemänner sowie deren Mätressen. Der Ehebruch und die daran anschließenden Erpressungen und Morde, sind zentrale Motive in den Dramen "Die untreue Frau", "Vor Einbruch der Nacht" und "Blutige Hochzeit".

Einen seiner bedeutendsten Filme überhaupt, "Der Schlachter", drehte Chabrol 1969 im zentralfranzösischen Perigord mit Jean Yanne und Stephane Audran in den Hauptrollen. Der Schlachter Popaul (Jean Yanne) ist traumatisiert aus Algerien und den Indochinakriegen zurückgekehrt und verliebt sich in die Dorfschullehrerin Helene, die den Posten im Dorf antrat, um eine unglückliche Liebe in Paris zu vergessen. Doch Helene kann für Popaul nur Freundschaft empfinden, und weist ihn zurück.

Als in der Gegend eine grausige Mordserie beginnt, findet Helene Hinweise, die auf Popaul als Täter schließen lassen. Doch Popaul bemerkt seinen Fehler und kann zunächst Helenes Vertrauen wieder gewinnen. Schlussendlich aber, offenbart er sich ihr und tötet sich in ihrem Beisein. Sie bringt den sterbenden Popaul noch ins Krankenhaus, wo aber jede Hilfe zu spät kommt.

Jean Yanne und Stephane Audran in 'Der Schlachter' Was den Film so beeindruckend macht, ist die trostlose Verzweiflung zweier Menschen, die sich begegnen und mögen, ohne sich einander anzunähern zu können. Weder Popaul noch Helene finden im Anderen das, was sie suchen. Zugleich gelang es Chabrol niemals besser, das Leben in einem kleinen französischen Dorf in derlei schöne und ehrliche Bilder zu packen, wie in "Der Schlachter".

Auch Chabrols bevorzugte Schauspieler, sind seiner Motivik angepasst: die beiden männlichen französischen Inkarnationen des gutbürgerlichen Bourgeois mit psychopathischen Zügen, Michel Serrault und Michel Bouquet, spielen die Hauptrollen in einigen seiner zentralen Filmen. Mit anderen Ikonen der französischen Schauspielergarde hingegen, wie Lino Ventura, Alain Delon oder Yves Montand, hat Chabrol nie gearbeitet.

Bei den Frauen, die seine weiblichen Hauptrollen spielen, ist eher Monotonie angesagt. Die Schauspielerin Stephane Audran, mit der Chabrol lange verheiratet war, spielte in nahezu allen seiner Filme bis Mitte der Achtziger Jahre die Hauptrollen oder eine wichtige Nebenrolle. Zudem hießen fast alle weiblichen Protagonistinnen Helene, das Helene Motiv Chabrols wäre schon eine eigene Habilitation wert. In den letzten Jahren arbeitete Chabrol vor allem mit Isabelle Huppert.
Gerade in dieser familientechnisch bedingten Besetzungsbande liegt ein Manko vieler Filme Chabrols: zum ungezählten Mal die Audran oder die Huppert ist einfach sterbenslangweilig, und oft sind es die Arbeiten mit "Nicht-Standard" Schauspielerinnen und Schauspielern, die gute Filme hervorbrachten (Noiret in 'Masken'; Jobert, Perkins und Orson Wells in 'Der zehnte Tag' oder May und Malavoy in 'Schrei der Eule'.)

Nein, Chabrol ist kein Balzac des 20.Jahrhunderts, was ja sein selbst formulierter Anspruch war und bleibt, er ist ein zynischer Beobachter des französischen Bürgertums ohne sich den Diderotschen Tragweiten Balzacscher Chroniken auch nur annähern zu können. Seine Werke sind bevölkert von oftmals ausgesprochen akademischen und daher anämischen Charakteren und geprägt von schlampigen Drehbüchern, obgleich Chabrol es in seinen besten Momenten schafft, so etwas wie Leben einzufangen und seine Abstraktionen mit etwas zu füllen, was uns ein wenig zu unterhalten vermag.

Letztlich auch schon nicht schlecht für einen Regisseur.
 

 


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